Die falsche Ideologie

Das Gymnasium von Pullach in Oberbayern will nicht mehr Otfried-Preussler-Gymnasium heissen. Weil der Schöpfer des «Räuber Hotzenplotz» in Ungnade gefallen ist. Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Otfried Preussler (1923-2013) als Wehrmachtssoldat und in späteren Jahren. / Collage Nicolas Lindt

Es war einmal im Deutschland des Zweiten Weltkriegs ein 18-jähriger Jugendlicher, der sich für den Nationalsozialismus begeisterte. Er sah in der nationalsozialistischen Ideologie eine leuchtende Zukunft, so wie ich als junger Mensch im Kommunismus ein Zukunftsversprechen sah. Er las Hitlers «Mein Kampf», so wie ich eines Tages die Werke von Lenin und Mao-tse-tung zu lesen begann, und er wollte ebensowenig wie ich erkennen, wieviel Tod und Leid diese Ideologien verursachen. Er trat sogar der NSDAP bei – so wie ich einer kommunistischen Gruppe beitrat. Und weil er gut schreiben konnte, verfasste er während des Krieges den Roman «Erntelager Geyer», der von seinen Erlebnissen in der Hitlerjugend handelte. Das frühe Werk lässt den schwärmerischen Glauben des jungen Mannes an den Nationalsozialismus erkennen – während ich in meinen Publikationen aus jungen Jahren den Kommunismus verherrlichte.

Der Autor, von dem hier die Rede ist, hiess Otfried Preussler. Wie Millionen anderer junger Deutscher bestand auch sein Vergehen allein darin, dass er den Nationalsozialismus idealisierte und nicht durchschaute. Seine Jugend entschuldigt den Autor – so wie auch ich zu meiner Entlastung anführen kann, dass ich jung war. Jung und verblendet.

Otfried Preussler wurde später ein gefeierter Autor von Kinderbüchern. Er schrieb unvergängliche Werke wie den «Räuber Hotzenplotz», «Die kleine Hexe» oder «Das kleine Gespenst». Doch vor lauter Lorbeeren, die ihm zuteil wurden, machte er einen sträflichen Fehler: Zeitlebens schwieg er über seine frühe Hingabe an den Nationalsozialismus. Während ich meine kommunistischen Jugendsünden stets offenlegte, hoffte Preussler vermutlich, auf seine Mitgliedschaft in der Partei nie angesprochen zu werden. Das hofften viele andere Deutsche auch, als die schreckliche Zeit vorbei war. Doch wer im Rampenlicht steht, muss damit rechnen, dass auch sein früheres Leben durchleuchtet wird.

2013 starb Otfried Preussler, und noch im gleichen Jahr entschied sich das Gymnasium von Pullach in Oberbayern, die eigene Schule in Otfried-Preussler-Gymnasium umzutaufen. Nur zwei Jahre später jedoch holte ein Literaturhistoriker den nationalsozialistisch angehauchten ersten Roman des Autors aus der Vergessenheit. Der unerwartete schmutzige Fleck auf der weissen Weste von Preussler zog seine Kreise, die ersten Feuilletons gingen auf Abstand, und inzwischen hat die alles vergiftende, alles bestrafende Woke-Bewegung auch den verstorbenen Dichter erreicht. Weniger als zehn Jahre nach seiner Umbenennung will das Otfried-Preussler-Gymnasium von Pullach seinen problematisch gewordenen Namensgeber bereits wieder loswerden.

Natürlich hat die Schulleitung ihren Entscheid nicht allein gefällt. Auch die Lehrerschaft, der Elternbeirat und die Schülervereinigung hätten das Löschen des Namens gewünscht. Was für ein Kniefall vor dem moralisierenden Zeirtgeist! Dieselben Lehrer und Eltern, die mit den Büchern von Otfried Preussler aufwuchsen, sie geliebt und verschlungen haben, distanzieren sich nun politisch korrekt vom Schöpfer des Hotzenplotz, der kleinen Hexe und des kleinen Gespenstes. Was geht in Menschen vor, die so ihre Kindheitsempfindungen krummbiegen?

Noch trauriger ist es, dass auch die Schüler die Namensliquidierung begrüssten. Mit wieviel Indoktrinierung sind diese Jugendlichen schon bearbeitet worden, dass sie, anstatt altersentsprechend zu rebellieren, nachbeten, was die Erwachsenen sagen? Warum haben ihnen Lehrer und Eltern nicht aufgezeigt, dass Jugendsünden zum Jungsein gehören? Warum haben sie ihnen nicht beigebracht, dass es Irrwege braucht, um den Weg zu erkennen?

Stattdessen lernen die jungen Menschen – und sie lernen es nicht nur im Gymnasium von Pullach –, dass man von Anfang an richtig denken muss. Eine innere Entwicklung, eine weltanschauliche Reifung wird der Jugend von heute nicht mehr erlaubt. Rassistische, sexistische, antisemitische oder andere falsche Gedanken darf man zwar vorerst noch denken, aber äussern darf man sie keinesfalls. Würde ein 15-jähriger Pullacher Gymnasiast Otfried Preusslers nationalsozialistische Jugendverirrung verteidigen, müsste er damit rechnen, von der Gedankenpolizei seiner Klasse ausgegrenzt und vom Deutschprofessor getadelt zu werden.

Von Otfried Preussler selbst wird heute erwartet, dass er sich schon als 17-Jähriger von der verwerflichen Ideologie hätte abgrenzen müssen. Der Hitlerjugend hätte er niemals beitreten dürfen. Dafür, dass er es damals getan hat, wird man ihn ewig bestrafen. Seine wunderbaren Bücher befinden sich nun auf dem Index von Werken zweifelhafter Autoren, die zu lesen zwar noch erlaubt ist, aber nicht mehr rundweg empfohlen wird. Und auch wenn liberal gebliebene Stimmen im Mainstream dagegen schreiben, auch wenn eine NZZ oder «Die Zeit» den Beschluss des Pullacher Rektorats kritisieren – gelöscht ist gelöscht. Die Schule wird umgetauft. Und die 22 anderen Bildungsstätten in Deutschland, die ebenfalls dem gefallenen Kinderbuchdichter gewidmet sind, werden sich ernsthaft fragen müssen, ob ihr Name nicht als Akt des Ungehorsams gegen den Staat interpretiert werden könnte.

Korrekt aufgeschminkt sind die Werke von Preussler schon längst. So wie bei Astrid Lindgrens «Pippi Langstrumpf» aus dem «Negerkönig» ein «Südseekönig» geworden ist, und so wie bei Michael Ende das «schwarze Baby» Jim Knopf zum «kleinen Baby» mutierte, erging es auch dem Erzeuger der «kleinen Hexe». Schon 2013 haben die Töchter von Otfried Preussler auf Wunsch des Verlags Worte wie «Negerlein» und «Eskimofrau» aus dem Buchtext gestrichen. Ihr Vater gab dazu sogar noch seine Erlaubnis – doch kurz darauf ist er, 89-jährig, gestorben. Als hätte er gar nicht mehr wissen wollen, was den Zensoren sonst noch hätte missfallen können. Denn wenn die Tür zur Zensur einmal offen steht, gibt es keine Instanz mehr, die dem Rotstift Einhalt gebietet. Dann kann ein Werk bis zur Unkenntlichkeit ideologisch verunstaltet werden.

***

Ganz anders freilich würde es Otfried Preussler heute ergehen, wenn er zum Beispiel am Ende des Krieges, nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft, in der DDR gelebt und wenn er sich, bevor er zu seiner Berufung fand, dem Aufbau des Sozialismus verpflichtet hätte. Als guter Kommunist und in seinem Beruf als Lehrer hätte er seine Kollegen bespitzeln müssen. Er hätte sie auf Parteilinie bringen müssen. Er hätte die Politik der Sowjetunion verteidigen müssen, die Verbrechen von Stalin, der Millionen von Opfern auf dem Gewissen hatte. Nehmen wir also an, Otfried Preussler wäre mit 18 Jahren nicht der Verlockung des Nationalsozialismus verfallen, sondern zehn Jahre später dem Lockruf des Kommunismus. Nehmen wir weiter an, er hätte dann in den Westen gewechselt, dem Dogma innerlich abgeschworen und seine ersten Kinderbücher veröffentlicht. Er wäre nicht der einzige ostdeutsche Autor gewesen, der dann im Westen literarisch reüssiert hätte.

Nehmen wir schliesslich an, dass Preussler auch über seine Zeit in der DDR nie gesprochen hätte. Und dass sein Engagement in der DDR erst nach seinem Tod, erst vor wenigen Jahren enthüllt worden wäre: Wie hätte dann die Gymnasiumsleitung von Pullach entschieden?

Sie hätte bestimmt keine Freude gehabt am ideologischen Schönheitsfehler. Aber sie hätte Preusslers einstige kommunistische Einstellung damit entschuldigt, dass er doch nur von Gerechtigkeit träumte. Dass er eine klassenlose Gesellschaft wollte! Seine Ehrung als grosser Kinderbuchautor hätte sie ihm nicht aberkannt. Die Schule würde auch weiterhin Otfried-Preussler-Gymnasium heissen.

Wie gesagt – Preussler lebte nie in der DDR. Er war nie Kommunist. Sein Pech.


Die Meinung der Kolumnisten braucht mit derer der Redaktion nicht übereinzustimmen.


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Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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