Die Inagara aus der Schweiz: Chapeau, Grossmutterherz der Dogon!
Annemarie Koch, 78, Vorsitzende des Vereins Kene Elou Te, begleitet mit ganzem Herzen, viel Erfahrung und gesundem Menschenverstand eine Lebensschule im Dogonland von Mali und schafft dabei Wunder für verarmte Menschen. Zum Beispiel Wasser. Oder Schutz durch Rebellen.
Szene auf der Weltfriedenswoche in Mali. Foto: Webseite von Kene Elou Te
Szene auf der Weltfriedenswoche in Mali. Foto: Webseite von Kene Elou Te

Inagara heisst Grosi auf Dogon, der Sprache der Dogon in Mali. Mit diesem Ausdruck von Dank und Respekt meinen rund 300 Kinder Annemarie Koch aus der Schweiz. Tatsächlich ist der – bisher vor allem telefonische – Kontakt mit der Schweizerin für sie Rettungsanker und grosser Trumpf in Zeiten von Bürgerkrieg, Vertreibung und Not. Von ihr erhalten sie Anregungen, Projektvorschläge, Aufmunterung bei Rückschlägen, Kontakt zu Gleichaltrigen in der Schweiz – und manchmal auch lebensrettendes Geld.

Und so begann es: Annemarie Koch war Teammitglied des Schul- und Jugendsenders RadioChico aus Lyss, als sich 2018 ein junger Lehrer aus dem Dorf Kati, unweit von Bamoko, der Hauptstadt von Mali, bei ihr meldete. Souleymane Guindo, so sein Name, bewarb sich auf fliessendem Deutsch als (ehrenamtlicher) RadioChico-Auslandskorrespondent. 

«So gross sind wir schon, dass wir einen Auslandskorrespondenten haben», staunte Annemarie. Von da an lieferte Souleymane Geschichten, Reportagen, Berichte über das Land, die Kultur, über Kinder – und bald auch mit Kindern. «Erst drei, dann fünf, dann fünfzig und heute 200 gehören zu Souleymanes Radioschule, der Ecole RadioChico Mali», erzählt Annemarie.

Mali – das westafrikanische Land mit der grossen kulturellen Vergangenheit, reich an Bodenschätzen – gehört heute zu den ärmsten Ländern der Welt und befindet sich im Bürgerkrieg. Im vorrangig muslimischen Vielvölkerstaat sind die Dogon, zu denen Souleymane gehört, ein traditionelles Volk, das noch seine alte Religion und Kultur lebt. Die Dogon wurden bekannt durch Theorien – unter anderem von Erich von Däniken–, dass sie den Planeten Sirius sehen und sich an ihm orientieren konnten, bevor es die technischen Geräte gab, ihn überhaupt zu entdecken.
Was auch immer daran ist, Annemarie Koch ist sicher, dass die Dogon ein sehr spirituelles Volk sind. «Ich habe noch nie Menschen gesehen, die so schwierigen Umständen mit so viel Lebensfreude begegnen», erzählt sie. «Immer sind die Mundwinkel oben, bei den Kindern sowieso, und bei den Erwachsenen auch.»

In Mali war Annemarie Koch selbst nie, sondern kennt es nur aus den Zoom-Calls, von den Videos, die die Kinder und Souleymane ihr schicken, und von Fotos. Und doch hat die Schweizerin von ihrer Wohnung in Aarberg aus mit ihrem kleinen Verein wahrscheinlich mehr für dieses ärmste Land der Welt getan als viele Hilfsorganisationen und Politiker. 

«Wir sind keine Hilfsorganisation», betont Annemarie Koch. «Wir sind eine Gemeinschaft. Wir hatten auch nie Pläne, sondern taten immer das, was gerade gebraucht wurde.»

Und das zeigte sich bald. Sein gutes Deutsch hatte Souleymane in einer deutschen Bibliothek in Bamako gelernt. Mit seinen Reportagen bezauberte und bewegte er viele Zuhörer von RadioChico. Schulklassen aus Mali und aus der Schweiz tauschten sich live aus, stellten sich gegenseitig Fragen über ihr Leben und ihre Träume. Die Lebensfreude, aber auch die Not im Subsahara-Land wurde sehr lebendig vermittelt. Bald kam der Wunsch auf, den neuen Freunden in Afrika zu helfen.

Eines Tages teilte ihr Souleymane Guindo in einem ihrer regelmässigen Zoom-Calls mit, dass viele Kinder der Ecole RadioChico an Malaria erkrankt seien und die Medikamente sehr teuer sind. 

«Aber das liegt nicht an den Medikamenten, sondern an den Mücken, da müsst ihr ansetzen», rief Annemarie aus. Sie kennt die Situation, denn sie hatte viele Jahre in Vietnam und Indien gelebt und gemerkt: An den Orten, wo sie Zitronengras, Basilikum und Tomaten anpflanzten, blieben die Mücken weg. Und damit auch die Malaria. 

«Jetzt machen wir es so», schlug sie Souleymane vor. «Jedes Kind bekommt je einen Blumentopf mit Zitronengras, Basilikum und einer Tomate, da haben sie auch noch was zu essen. Das sollen sie pflegen und giessen. Wenn die Tomaten reif sind, sollen sie davon eine Scheibe abschneiden, auf die Erde legen und mit Erde decken.» So geschah es - und nach einigen Monaten kam die Erfolgsmeldung: Die Mücken blieben weg, die Malaria war überstanden, und die Tomaten schmeckten.

Dann kam Corona. Die Menschen mussten zu Hause bleiben. Die Männer hatten keine Arbeit mehr, auch Souleymane bekam keinen Lohn mehr als Lehrer. Und eines Tages sagte er ihr, mehrere Kinder an seiner Schule hätten nicht genug zu essen. 

«Reis zu schicken, ist keine langfristige Lösung», sagte ihm Annemarie. «Lass es uns so machen: Den notleidendsten Familien stellst du bei Nacht und Nebel einen Sack Reis vor die Tür. Die anderen Kinder sollen Pflanzen bekommen.»

So geschah es. Da die Familien kein Land für Gärten hatten, besorgten sie sich alte Pneus, Säcke und andere Behälter, die sie mit Erde füllten und darin Gemüse anpflanzten. 

«Das waren die ersten Versuche. Bald bekam ein Mädchen ein kleines Stückchen Land gestellt, auf dem es alles Mögliche ausprobierte und anpflanzte. Das ging so gut, dass wir beschlossen, Land zu kaufen.»
Sie fanden ein Gelände von 2000 Quadratmetern. «Was ist da drauf?» fragte sie Souleymane. «Nichts», antwortete er. «Nur ein Moringa-Baum.»
«Ein Moringa-Baum? Dann ist da auch Wasser. Und dann werden wir einen Brunnen haben.»

Sie holten Offerten von Brunnenbauern ein. «Und es war eigentlich das «schäbigste» Angebot, das wir bekamen, aber irgendwie wusste ich, das ist es. Dieser Mann, Moha d, legte nicht nur einen Brunnen an, sondern ist bis heute präsent, wann immer Hilfe gebraucht wird.»

In ihrem Garten in Kambila lernen und pflanzen die Kinder und können direkt für ihre Lebensmittelautonomie sorgen. Manchmal können sie sogar ihre Überschüsse verkaufen. Und Projekte wie der Solarkocher und die Wassernutzung sind Überlebensbeispiele für das Land.

Inzwischen schloss RadioChico wegen Geldmangel. Das aber durfte nicht das Ende der Kooperation mit Mali sein, fand Annemarie. Sie gründete mit Freunden zusammen den Verein «Kene Elou Te» - zu deutsch: Friede und Lebensfreude, oder auch: «MitEinEnder». Und miteinander organisieren sie Projekte und Friedenswochen in der Schweiz und Mali.

Nach einer verheerenden Überschwemmung im Gebiet der Dogon beschlossen Souleymane und Annemarie, dort dasselbe Projekt zu starten wie in Kambila: einen Schulgarten. Von einem Dogonältesten bekamen sie dafür einen Hektar Land zur Verfügung gestellt. Aber Angst vor den Rebellen ging um. Denn Banden überfielen immer wieder die Dörfer. Da hatte Annemarie eine Idee und sagte: «Wenn ihr es schafft, dass die Kinder der Dogon und die Kinder der Rebellen zusammen den Garten bewirtschaften, schaue ich hier in der Schweiz, dass wir das Geld zusammenbringen für einen Brunnen.» 

Tatsächlich gelang es. Die so genannten Rebellen, so stellte sich heraus, sind nichts anderes als Angehörige eines anderen Stammes, die von ihrem Land vertrieben wurden – und jetzt von Überfällen leben müssen. Der Schulgarten war ein Anlass, der Frieden bewirkte. Die Rebellen versprechen nun sogar, den Brunnen auf dem gefährlichen Transport von Bamako ins Dogonland zu beschützen. 

«Und ich bin mir mehr als 300-prozentig sicher, dass sie das tun werden», sagt Annemarie. Und ihr guter Glauben scheint tatsächlich äusserst überzeugend zu sein. 

So erhielt Souleymane nach zähem Beharren durch Annemarie im letzten Jahr ein Besuchsvisum in die Schweiz. «Die Beamten glaubten, er würde dann nicht wieder zurückwollen. Aber ich war mir so sicher, dieser Lehrer liebt seine Kinder zu sehr. Der wird auf jeden Fall zurückwollen.» So war es denn auch.

Seit 2015 hat RadioChico jeden Sommer eine Weltfriedenswoche organisiert – eine Woche ganz im Zeichen des Friedens. Nachdem es RadioChico nicht mehr gibt, führen Souleymane und die Kinder in Mali die Tradition weiter. Sie finden es wichtig für ihr Land.

KeneElouTe Schweiz hat sie dabei unterstützt, ihre Podcasts veröffentlicht und auf der Webseite darüber berichtet. So gab es einen Sporttag, wo es keine Verlierer gab. Einen Tag, wo die Kinder Samenkugeln aus Ton geformt und ausgeworfen haben. Einen weiteren Tag, wo sie einander vergeben haben und teilten, was sie hatten. 

«Und am Abschlusstag,» erzählt Annemarie weiter, «kamen viel mehr Menschen als gedacht, anstelle von 250 Menschen waren es 350, und es gab viel zu wenig zu essen. Da nahm Salimata, eine Schülerin der Ecole RadioChico das Mikrofon und erinnerte alle daran, dass sie vom Teilen gesprochen hatten. Sie holte einen Teller für sich, ist zu einem anderen gegangen und hat mit ihm geteilt. Und so hatten alle etwas zu essen, wenn auch keine vollen Bäuche.»
«Kene Elou Te» ist, wie Annemarie sagt, keine Hilfsorganisation, sondern eine Gemeinschaft. Auf jeden Fall ist es eine Herzensangelegenheit, und Menschen wie Annemarie und Souleymane sorgen dafür, dass wir immer wieder eine Möglichkeit finden können, unser Herz zu öffnen – und wenn Hilfe gebraucht wird, sie auch zu geben. Davor ziehe ich den Hut. 
 

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.  
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

Newsletter bestellen