Ein Zug wird kommen
Warten, dulden, schweigen: Wie uns die Deutsche Bahn Untertanenqualitäten lehrt. Die Samstagskolumne.
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Ergebenheit im Bahnhof. Foto: Oliver Sand

Ich will keine Witze mehr über die Deutsche Bahn hören. Auch keine Leidensgeschichten mehr. Ich bin müde. Und ich glaube, so geht es vielen. Wenn nicht allen.

Gerade komme ich von einer Fahrt mit dem ICE-Sprinter. Von Köln nach Berlin ohne Stopp in drei Stunden. Eigentlich. In Wirklichkeit war auf halber Strecke – in Hannover – Schluss mit lustig. Da mussten alle raus, es ging auf Bummelbahnstrecken weiter, und wir waren statt um 10 Uhr morgens gegen 14 Uhr in Berlin. 

Das Merkwürdige: Ich habe keinen gehört, der sich aufgeregt oder beschwert hat. Man zieht ein wenig die Mundwinkel herunter, als wolle man sagen: Naja, das war ja zu erwarten. Der deutsche Mensch ist entweder unglaublich geduldig geworden – oder abgestumpft. Womöglich haben wir einfach resigniert.

Ähnlich war es überall während meiner kleinen Adventsfamilienreise auf verschiedenen Bahnhöfen. Immer wieder die ewig gleiche, monotone Stimme: Der Zug xy, geplante Abfahrt 15:21 Uhr, verspätet sich um 20, 30, 80, 150 Minuten. Grund dafür ist – hier bitte ankreuzen: eine Reparatur am Zug, ein vorausfahrender Güterzug, Gegenstände auf der Fahrbahn, momentanes Irre-Sein der Bahnbegleiter. Wir bitten um Entschuldigung.

Inzwischen hat sich herumgesprochen: Die Deutsche Bahn hat seit Jahrzehnten schlichtweg mehr Züge angeboten, als sie tatsächlich bedienen konnte. Die längst überfällige Überarbeitung der Infrastruktur wurde einfach nicht angegangen. Da haben Menschen falsche Entscheidungen getroffen, immer wieder, und trotzdem sehr viel Geld verdient. Unser Geld.

Doch auch hier: Ich höre niemanden fluchen oder schimpfen. Niemand kriegt einen Heulkrampf, jedenfalls nicht äusserlich sichtbar. Und schon gar nicht kommt es zu einem Aufstand, wo die Fahrgäste sich zusammentun und in Sprechchören von den Verantwortlichen Rechenschaft fordern. Auch die Scherze sind den Menschen ausgegangen. Ergeben hört man die Ansagen, tippt in seinem Handy herum, sucht dort weitere Informationen – und wartet. 

Ein Zug wird kommen. Irgendwann. Wozu sollte man sich aufregen? Bei wem sich beschweren? Man wird die meisten kleineren Bahnhöfe vergeblich nach einem Menschen absuchen, der einem Auskunft geben oder bei dem man den Frust kommunizieren könnte. Es ist alles automatisiert. Wenn zufällig irgendwo noch eine Angestellte der Bahn auftaucht, wird sie mit den Achseln zucken und sagen: Ich weiss es selbst nicht. Ich kann doch auch nichts dafür. Das stimmt wahrscheinlich auch. 

Und während ich etliche meiner verrinnenden Lebensstunden auf Bahnhöfen mit Warten verbringe und Ergebenheit trainiere, kommt irgendwann der Gedanke: Vielleicht ist das ja alles Absicht. So sehr kann doch die früher sprichwörtliche Zugverlässigkeit nicht verschwunden sein. Ist das nicht in Wirklichkeit eine grosse Erziehungsmassnahme zum Untertanen? Was uns früher die Kirche beibrachte, lernen wir heute - von der Deutschen Bahn? Gleichmut und Geduld. Nicht auffallen. Solidarität mit den Verantwortlichen. Wer sich beschwert, wer laut und emotional wird – ist uncool!

Wenn wir uns das gefallen lassen, lassen wir auch alles andere über uns ergehen: Corona-Zwangsmassnahmen und Schulschliessungen. Waffenlieferungen für Völkermorde. Den Ausverkauf des Sozialstaates. Die Kriegstreiberei ehemaliger Pazifisten. Man kann ja doch nichts tun. Wen sollte man auch zur Rechenschaft ziehen! Sich aufregen ist uncool. Lieber einfach aussitzen. Wird schon vorbeigehen. Ein Zug wird kommen, und dann ist alles vergessen.

Nein, ist es nicht! Diese Erziehung müssen wir ganz schnell wieder rückgängig machen. Leute, regt euch wieder auf! Und wenn ihr erst mal nichts tun könnt, als emotional zu werden oder laut vor euch hin zu schimpfen oder gegen eine Mülltonne zu treten – tut es! Vielleicht braucht ein Mensch neben euch dieses Signal, dass er mit seiner Unzufriedenheit nicht allein ist. Irgendwann muss doch auch im schwermütig-schwerfälligen deutschen Gemüt ein Funke der Wut zu entfachen sein, der sagt: So nicht. Nicht mit uns.

Ab nächstes Jahr sind in unserer Gegend Tiefflüge von Kampfflugzeugen erlaubt. Man stellt unsere geliebte Küstenregion (ich lebe an der Ostsee) als Testfläche für Rheinmetall und Co zur Verfügung, angeblich weil der Russe uns angreifen will. «Es wird laut», sagte ein Politiker dazu. «Sehr laut.» Für unser sensibles Ökosystem mit den Rastplätzen vieler Zugvögel ein Desaster. Für den Tourismus, von dem hier fast alle leben, auch. Ganz abgesehen von den ganzen Abgasen. Das könnte doch eine Probe sein: Werden wir endlich ausrasten? Lasst uns laut werden - sehr laut!

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.  
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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