Eine ungehaltene Predigt

Die Weihnachtsansprachen sind gehalten. Ungeachtet aller internationalen Proteste und Bitten, es um Weihnachten wenigstens zu Feuerpausen kommen zu lassen, ging Israels Einsatz im Gazastreifen (und auch Westjordanland) weiter. Ein Ausschnitt aus einer Ansprache des Pfarrers Munther Isaac in Bethlehem drängt mich zu dieser «Ungehaltenen Predigt».

Christus in Trümmern
«Christus in Trümmern» - in Bethlehem, Weihnachten 2023

Vor 800 Jahren soll Franz von Assisi mit echten Tieren und Menschen die erste Krippenszene gestellt haben. Daraus wurde eine Erfolgsgeschichte – bis heute. Unzählige Krippendarstellungen aus allen Regionen der Welt, Krippenspiele, Sternsinger, das ganze Tableau des zur Weihnachtsgeschichte gehörenden Personals: Stern, Hirten, Kind und Krippe, Bethlehem. Das hat bis jetzt funktioniert.

Jetzt geht das nicht mehr. Es darf nicht mehr so weitergehen: Krippenidyll und Weihnachtsgefühligkeit werden von den Realitäten im Nahen Osten und anderswo in Frage gestellt. Sollte man zumindest meinen. Aber das erlebte kirchliche Raunen zum Hl. Abend und in der Christnacht erschien mir erstaunlich unberührt von dem himmelschreienden Unrecht, auf das aktuell gerade in Bethlehem aufmerksam gemacht wurde.

Festtagsfrage

...das fragten wir unsere Leser und Leserinnen.

Danke für all die tiefen, lustigen, kreativen und nachdenklichen Antworten, die Sie hier nachlesen können.

Es waren Christ:innen in Bethlehem, die das Jesuskind auf Steintrümmer betteten. Selbst die schäbige Futterkrippe ist inzwischen sentimental domestiziert. Trümmer durch israelisches Militär zerstörter Häuser sind der Ort, an dem der herabgekommene Gott gebettet wird. Das ist Schrei und Anklage zugleich.

Es waren wiederum Christ:innen in Bethlehem, die entschieden haben, dass sie Weihnachten nicht wie sonst feiern können und wollen. In der Berichterstattung war das höchstens eine Fussnote, wo diese Symbolhandlung doch als verzweifelter Aufschrei zu deuten wäre.

Mach’s wie Gott: Werde Mensch!

In früheren Zeiten gab es auf dem Schlachtfeld eine Art «Weihnachtsfrieden». Unvergessen die verfilmte Geschichte von Heiligabend an der Westfront im Ersten Weltkrieg. Verfeindete Nationen finden wenigstens über Weinachten und «Stille Nacht» zueinander. Der menschenfressende Stellungskrieg ist ausgesetzt. Begegnung von Angesicht zu Angesicht waren für kurze Zeit möglich.

Nichts davon im Unheiligen Land unserer Tage. Der 7. Oktober war eine verstörend-menschenverachtende Barbarei. Die verbissene Doktrin der israelischen Regierung, Hamas ein für alle Mal mit Stumpf und Stil auszurotten, hält eine unfassbare Dynamik in Gang. Ich kann darin schon lange keine Selbstverteidigung mehr erkennen. Das alles kann nicht länger vom Völkerrecht gedeckt sein. Mass und Verhältnismässigkeit bleiben schon lange auf der Strecke. Weit vor dem 7. Oktober hat israelische Politik damit angefangen, jüdisches und palästinensisches Leben unterschiedlich zu werten. Das ist ein Skandal. Das führt zu fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen, über die die Welt lange hinweggesehen hat. Ich muss gestehen, dass auch mich das alles bis jetzt (zu) wenig bekümmert hat.

«Mach’s wie Gott: Werde Mensch». Diese Formel hat vor Jahren der so bescheidene, glaubwürdige Limburger Bischof Franz Kamphaus geprägt. Der Blick auf die Konflikte unserer Tage – von der Ukraine redet man weniger, von Myanmar schon gar nicht. Wie viele blutige und hitzige Konflikte dringen gar nicht bis in unsere Wohnzimmer oder auf die Bildschirme unserer Handys: Wir haben Gottes Vorsatz noch lange nicht erreicht. Dass das Falsche getan wird, dass wir alle miteinander schweigen, macht es sehr fraglich, ob wir mit unserer Mensch-Werdung vorangekommen sind. Vielleicht sind wir gerade dabei, bereits Erreichtes wieder zu verspielen.

Man lässt keine Menschen im Meer ertrinken. Punkt!

Als ich nach den Weihnachtsgottesdiensten hörte, was der lutherische Pfarrer Munther Isaac der Welt ins Stammbuch geschrieben hat, war ich einfach nur beschämt.

Die Glaubensgeschwister in Palästina fühlen sich verraten und verlassen. Sie sind verstört und gebrochen, sind enttäuscht von uns westlichen Christ:innen und unserer ausbleibenden geschwisterlichen Solidarität. Was ist beschworene Einheit in Christus wert, wenn es viele kirchliche Stimmen und offizielle Stellen kalt lässt, dass unschuldige Menschen und Gotteshäuser zerstört werden. Von wegen «wenn ein Glied leidet, leiden alle mit» (1. Korinther 12, 26). Wäre dem so, müsste Kirche aufschreien. Es scheint so, als sei bis auf wenige Stimmen der Papst der einzige, der das verheerende Geschehen im Gazastreifen mit klaren und harten Worten geisselt: «Krieg» und «Terrorismus» nennt er, was da stattfindet – mit menschlichen ‚Kollateralschäden‘, die in keinem Verhältnis zu den Zahlen der barbarisch ermordeten oder verschleppten Israelis stehen.

«Man lässt keine Menschen im Meer ertrinken. Punkt», hiess es noch vor vier Jahren im Abschlussgottesdienst des Kirchentages in Dortmund. Diese Haltung führte zur Unterstützung des Rettungsschiffes «United4rescue».

Jetzt vielfach kirchliche Funkstille. Mir gellen die Sätze des lutherischen Pfarrers aus Bethlehem im Ohr: «Wir sind empört über das Schweigen der Kirche. Schweigen ist Mittäterschaft. Gaza ist heute zum moralischen Kompass der Welt geworden. Wenn Sie nicht bis ins Mark erschüttert sind, dann stimmt etwas mit Ihrer Menschlichkeit nicht. Und wenn wir als Christen nicht empört sind über den Völkermord, über die Bewaffnung der Bibel, um ihn zu rechtfertigen, dann stimmt etwas nicht mit unserem christlichen Zeugnis, und wir gefährden die Glaubwürdigkeit unserer Botschaft des Evangeliums... Es ist eine Sünde und eine Dunkelheit, die Sie bereitwillig in Kauf nehmen.»
Diese Sätze sitzen.

Und wie klingt es bei uns? Entweder ertönt amtskirchliche Nibelungentreue zur aktuellen israelischen Politik so einseitig, dass der Blick auf palästinensischen Leid keiner Erwähnung wert ist. Oder – wie jetzt mehrfach erlebt – redet Kirchensprech so allgemein, unkonkret, belanglos und an allen Infragestellungen vorbei über das «Wunder der Weihnacht», dass ich mich frage, ob wir alle im gleichen Film sind.

Auch wenn ich zubilligen will, dass wir emotionale Oasen und Ruhepunkte brauchen, um nicht von den geballten Krisen emotional plattgemacht zu werden: Manchmal ist Schweigen Feigheit und Verrat an denen, die kaum noch eine Stimme haben: Unter ihren arabischen Nachbarn nicht, unter ihren Glaubensgeschwistern nicht und offenbar auch nicht ausreichend bei uns, die wir uns gemeinsam zum menschengewordenen Gott bekennen.

Die Krippe, an der noch keiner von uns stand, kann nicht nachgebaut werden. Sie kann nur erzählt werden.

Alle gutgemeinte «wertebasierte Aussenpolitik», die Lehrstunden zu Menschenrechten und Demokratie werden zurecht nur noch als leere Phrasen gebrandmarkt, wenn offensichtlich wird, dass man mit zweierlei Mass misst. Es klang so gallenbitter, wenn der bethlehemitische Pfarrer Isaac sich jede weitere westliche, auch und gerade auch deutsche, Lehrstunde in Sachen Menschenrechte verbittet.

Wir reden zu viel, wo wir besser geschwiegen hätten oder uns ehrlicherweise die Worte im Hals stecken bleiben müssten angesichts des Furchtbaren, das in Echtzeit vor unseren Augen geschieht.
Wir reden zu wenig, wir verstärken den Verzweiflungsschrei der geschundenen Frauen und Kinder, vertriebenen und verstörten Menschen nicht – und stehen letztlich beschämt und entzaubert da.

Es ist wahrlich nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass die Weihnachtsbotschaft vom «Frieden auf Erden» in reale Not, in Krieg, Verzweiflung und Angst gesprochen wurde. Das erinnert an die stärkende Kraft, die in der alten Geschichte liegt.

«Die Krippe, an der noch keiner von uns stand, kann nicht nachgebaut werden. Sie kann nur erzählt werden,» schrieb die Schriftstellerin Felicitas Hoppe in einem Text über Weihnachten. Deshalb darf diese Botschaft nicht verstummen und verschwiegen werden. Sie muss aber im Blick auf alle harten Realitäten erzählt werden. Sie muss so erzählt werden, dass wir nicht bei biblischen Hirten und Krippenidyll hängenbleiben. Ernstgenommen war schon das erste Weihnachten in Betlehem alles andere als idyllisch. Es geschah in der Zugluft harter Realitäten.

Was unter diesen Umständen galt – «Euch ist heute der Heiland geboren – Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden» – gilt nicht weniger jetzt.

Das bedeutet, dass wir das Bild vom neugeborenen Kind inmitten der Trümmer ertragen. Das muss uns verstören und aufwecken. Gott kommt zur Welt – ohne dass die Welt schöngeredet, ihre Wirklichkeiten ausgeblendet werden.

Gott kommt herunter und wird Mensch. Damit ist ausgeschlossen, dass es Abstufungen von Menschenwürde und Menschenrechten gibt. Gott macht es vor, unterschiedslos Menschen als Menschen zu behandeln. Da gibt es keine besseren Opfer und andere, die man übergehen kann. Da hat sich der zweifelhafte Vorwurf vermeintlicher Relativierung «Ja, aber» von selbst erledigt: Wo immer Menschen getötet werden und leiden, wird unabhängig von Nation, Religion, Status oder Weltregion Gott verletzt. Indem er sich mitten in Trümmerteile bettet, würdigt er Menschen, seine Ebenbilder sein.

1223 hat Franziskus erstmals die Weihnachtsgeschichte lebendig in Szene gesetzt. 2023 haben wir es in der Hand, ob man dieser Geschichte und ihrem «Fürchtet euch nicht» weiter folgen kann und will. Das Projekt «Menschwerdung» ist jedenfalls mitnichten erledigt. Amen.


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