Entsetzt über die schweren Verstösse gegen das Völkerrecht durch die israelische Armee... und besorgt über die Passivität der Schweiz
31 Professorinnen und Professoren für Völkerrecht und Völkerstrafrecht in der Schweiz schrieben einen Offenen Brief an den Bundesrat, den wir im Wortlaut hier veröffentlichen.
Demonstration: «Kinder zu bombardieren, ist keine Selbstverteidigung». Foto Evi Hanifah
Demonstration: «Kinder zu bombardieren, ist keine Selbstverteidigung». Foto Evi Hanifah

Entsetzt über die schweren Verstösse gegen das Völkerrecht durch die israelische Armee im besetzten palästinensischen Gebiet, insbesondere im Gazastreifen, und besorgt über die Passivität der Schweiz, erinnern wir, die unterzeichnenden Professorinnen und Professoren für Völkerrecht und Völkerstrafrecht an Schweizer Universitäten, aus unserer akademischen Verantwortung heraus den Bundesrat daran, dass die Schweiz völkerrechtliche Verpflichtungen hat, die sie unbedingt einhalten muss. 

Tut sie dies nicht, riskiert sie völkerrechtliche Verantwortung und mögliche Gerichtsverfahren. (Da sie die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz im Zusammenhang mit der israelischen Besetzung Palästinas nicht berühren, nimmt dieses Schreiben nicht zu den Verstössen der Hamas gegen das Völkerrecht Stellung, einschliesslich der Angriffe vom 7. Oktober 2023.)

In seinem Gutachten vom 19. Juli 2024 zu den rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik (Conséquences juridiques découlant des politiques et pratiques d’Israël dans le Territoire palestinien occupé, y compris Jérusalem-Est), hat der Internationale Gerichtshof (IGH) die Art und den Inhalt der Verpflichtungen Israels präzisiert, aber auch die Verpflichtungen aller anderen Staaten, daher auch der Schweiz, welche Verpflichtungen nicht nur erga omnes, sondern auch omnium darstellen. Nach Ansicht des Gerichtshofs macht die Verletzung des Verbots der gewaltsamen Aneignung von Gebiet und des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes sowie seiner Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht und dem Besatzungsrecht und den internationalen Menschenrechtsnormen die Anwesenheit Israels im besetzten palästinensischen Gebiet, einschliesslich des Gazastreifens, rechtswidrig (§ 261) und hat Verpflichtungen zur Folge, diese Verletzungen zu beenden, zu verhüten und als Ausfluss der Staatenverantwortlichkeit Wiedergutmachung zu leisten (§§ 262-272). 

Dieser Verstoss gibt nicht nur allen Staaten das Recht, Israels Verantwortlichkeit anzurufen, sondern begründet auch drei Verpflichtungen für alle diese Staaten, darunter die Schweiz: die Verpflichtung, die Situation nicht als rechtmässig anzuerkennen (i), die Verpflichtung, keine Hilfe oder Unterstützung zur Aufrechterhaltung dieser Situation zu leisten (ii) und die Verpflichtung zusammenzuarbeiten, um alle Hindernisse für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes zu beseitigen (iii) (§ 279).

Darüber hinaus hat der IGH in seinem Beschluss vom 30. April 2024 in der Rechtssache Verstösse gegen bestimmte internationale Verpflichtungen in Bezug auf das besetzte palästinensische Gebiet (Manquements allégués à certaines obligations internationales relativement au Territoire palestinien occupé, Nicaragua c. Allemagne) den Inhalt einer vierten Verpflichtung aller Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, darunter auch der Schweiz, präzisiert (iv): Die Verpflichtung zur Verhütung des Völkermordes gemäss Artikel 1 verlangt von den Vertragsstaaten, die Kenntnis von einer ernsthaften Gefahr der Begehung von Völkermord hatten oder normalerweise hätten haben müssen, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Völkermord so weit wie möglich zu verhindern (§ 23). 

In diesem Zusammenhang erinnerte der IGH alle Staaten an ihre internationalen Verpflichtungen hinsichtlich der Weitergabe von Waffen an Parteien eines bewaffneten Konflikts, um das Risiko zu vermeiden, dass diese Waffen zur Begehung von Verstössen gegen die vom IGH genannten Übereinkommen, einschliesslich der Genfer Abkommen, verwendet werden (§ 24). Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass der Gerichtshof vor über einem Jahr in seinem Beschluss vom 24. Mai 2024 in der Rechtssache Anwendung des Übereinkommens zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes im Gazastreifen (Application de la convention pour la prévention et la répression du crime de génocide dans la bande de Gaza, Afrique du Sud c. Israël), befand, dass eine reale und unmittelbare Gefahr besteht, dass ein solcher Schaden, nämlich ein Völkermord, verursacht wird, bevor der Gerichtshof endgültig entscheidet (§ 47).

Im Folgenden ziehen wir die rechtlichen Konsequenzen aus diesem Gutachten und Beschlüssen für die vier völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz nach einem weiteren Jahr nicht nur beispielloser israelischer Gewalt im Gazastreifen, sondern auch der Untätigkeit der Schweiz in dieser Frage.

Im Rahmen ihrer ersten Verpflichtung und um die israelische Besatzung nicht als rechtmässig anzuerkennen, muss die Schweiz aktiv die Achtung der Unverletzlichkeit und der Vorrechte und Immunitäten der 1949 von den Vereinten Nationen eingerichteten Agentur (UNRWA) unterstützen, deren Auftrag es ist, humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe für palästinensische Flüchtlinge, auch im besetzten Gebiet Palästinas und im Gazastreifen, zu leisten. Sie muss auch die Finanzierung der UNRWA fortsetzen, um eine weitere Schwächung dieser Organisation und damit eine Gefährdung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge zu vermeiden.

Im Rahmen ihrer zweiten Verpflichtung ist die Schweiz verpflichtet, sorgfältig darauf zu achten, dass Schweizer Unternehmen, über die sie Kontrolle ausübt, jegliche Unterstützung für die gewaltsame Aneignung und Besetzung palästinensischen Territoriums unterlassen, einschliesslich im Bereich des Kaufs und Verkaufs von Rüstungsgütern oder anderen Technologien mit doppeltem Verwendungszweck. Im Rahmen ihrer Verpflichtung, die Aufrechterhaltung der Besetzung und die Verletzung des humanitären Völkerrechts nicht zu unterstützen, muss die Schweiz auch die Einfuhr von Produkten aus den Siedlungen als israelische Produkte auf ihren Markt verbieten.

Im Rahmen ihrer dritten Verpflichtung ist die Schweiz verpflichtet, sich an den gemeinsamen Bemühungen der anderen Staaten der Vereinten Nationen um die Schaffung eines Staates als Voraussetzung für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes zu beteiligen, und zwar auch ohne die Zustimmung Israels.

Schliesslich hat die Schweiz gemäss der vierten vom IGH bekräftigten Verpflichtung die Pflicht, die Einhaltung der Genfer Abkommen durch Israel aktiv durchzusetzen, insbesondere die Verpflichtungen aus dem vierten Abkommen, gemäss Art. 1 der vier Abkommen. Dies auch durch gezielte Sanktionen gegen israelische Zivilpersonen, die unter Verletzung des Verbots für Israel, einen Teil seiner Bevölkerung in das besetzte Gebiet zu verlegen, in diesem Gebiet wohnen. Ihre Eigenschaft als Depositar dieser Abkommen verstärkt die Verpflichtungen der Schweiz noch, darunter die Verpflichtung, eine Konferenz der Vertragsstaaten über die Lage im besetzten palästinensischen Gebiet einzuberufen. Da die Verstösse Israels auch die schwersten Verbrechen des Völkerstrafrechts darstellen, darunter Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglicherweise Völkermord, ist die Schweiz auch zur Verhütung und Ahndung dieser Verbrechen verpflichtet.

Verfasser:innen und Erstunterzeichner:innen

Samantha Besson, Professorin für Völkerrecht, Universität Freiburg; Mitglied des Vorstands der Schweizerischen Vereinigung für Internationales Recht

Anna Petrig, Professorin für Völkerrecht und Öffentliches Recht, Universität Basel; Mitglied des Vorstands der Schweizerischen Vereinigung für Internationales Recht

Marco Sassòli, Honorarprofessor für Völkerrecht, Universität Genf; Mitglied des Vorstands der Schweizerischen Vereinigung für Internationales Recht

Der Brief wird dem Bundesrat am 12. August 2025, dem Jahrestag des Annehmens der Genfer Konventionen, überreicht und veröffentlicht.

Unterzeichner:innen (Stand am 11. August 2025)

1.Samantha Besson, Professeure de droit international public et droit européen, Université de Fribourg

2. Anna Petrig, Professorin für Völkerrecht und Öffentliches Recht, Universität Basel

3. Marco Sassòli, Professeur honoraire de droit international public, Université de Genève

4. Helen Keller, Professorin für Völkerrecht und Öffentliches Recht, Universität Zürich

5. Anne Saab, Associate Professor of International Law, Geneva Graduate Institute

6. Giovanni Distefano, Professeur de droit international public, Université de Neuchâtel et Académie de droit international humanitaire et de droits humains (Genève)

7.Rainer J. Schweizer, Prof. em. für Öffentliches Recht und Völkerrecht, Universität St. Gallen

8.Odile Ammann, Professeure associée, Centre de droit public, Université de Lausanne

9.Evelyne Schmid, Professeure de droit international public, Université de Lausanne

10.Jorge E. Viñuales, Professeur à l’Université de Cambridge, ressortissant suisse

11.Sophie Weerts, Professeure associée de droit public, Université de Lausanne

12.Nicolas Levrat, Professeur de droit international public et droit européen, Université de Genève

13.Nadja Capus, Professeure de droit pénal et procédure pénale, Université de Neuchâtel

14.Thomas Cottier, em. Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht, Universität Bern

15.Lucius Caflisch, Professeur honoraire de droit international public, Institut de Hautes Etudes Internationales et du Développement, Genève

16.Jörg Künzli, Professor für Staats- und Völkerrecht, Universität Bern

17.Judith Wyttenbach, Professorin für Staats- und Völkerrecht, Universität Bern

18.Robert Roth, professeur honoraire de droit pénal international, Université de Genève

19.Zachary Douglas, Professor of International Law, Geneva Graduate Institute

20.Hans Vest, Prof. em. für Strafrecht, Völkerstrafrecht und Rechtstheorie, Universität Bern

21.Daniel Thürer, Prof. em. für Völkerrecht, Universität Zürich

22.Paola Gaeta, Professor of International Law, Geneva Graduate Institute

23.Andreas Müller, Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte, Universität Basel

24.Pierre-Marie Dupuy, Professeur honoraire de droit international public, Institut de Hautes Etudes Internationales et du Développement, Genève

25.Stephan Breitenmoser, Prof. em. für Europa- und Völkerrecht sowie Öffentliches Recht, Universität Basel

26.Ilaria Espa, Associate Professor, USI Lugano

27.Leena Grover, Professor of Public International Law, University of St. Gallen

28.Gloria Gaggioli, Professeure de droit international public, Université de Genève

29.Martina Caroni, Professorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, Universität Luzern

30.Nico Krisch, Professor of International Law, Geneva Graduate Institute

31.Sévane Garibian, Professeure de droit international pénal, Université de Genève

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