Erst die Würde, dann der Reichtum

Boliviens Präsident Evo Morales hat geschafft, was längst überfällig war: der indigenen Bevölkerungsmehrheit des Landes ihre Würde zurückzugeben. Doch auch er ist nicht gefeit vor Machtansprüchen und Korruption.

Der Kontrast ist gross zwischen dem Mittelstand in Boliviens Haptstadt La Paz und den Armen in den Favelas an den Steilhängen.

Es könnten Bilder sein, die ganz weit zurückliegen: Indigene in traditioneller Kleidung, die in Bolivien mit Gehstöcken drohend vom Trottoir heruntergescheucht werden. Busse in der Andenstadt La Paz mit zwei Kompartiments, damit die Weissen für sich alleine sitzen können. Auf der Strasse Beleidigungen wie «Du Tier!», die den Bewohnern indigener Abstammung an den Kopf geworfen werden. Sie liegen aber nicht sehr weit zurück.

In einem bescheideneren Viertel der Mittelschicht von La Paz sitzt Luis Flores auf einer Parkbank. «Das ist das Wichtigste, was Präsident Morales in den letzten zwölf Jahren geschafft hat», sagt der Politologe. «Dass die ‹Indígenas› wieder ein Selbstwertgefühl haben und ihre Kultur, ihre Kleidung und ihre Sprache nicht mehr verstecken müssen.»

Würde, Rechte und wirtschaftlicher Aufstieg sind in Bolivien eng miteinander verknüpft.

Bolivien gehört zu den ärmsten Ländern Südamerikas. Im Jahr 2006 trat zum ersten Mal ein «Indígena», wie die Indigenen in Lateinamerika genannt werden, das Präsidentenamt an: Evo Morales, ehemaliger Kokabauer, ein Mann aus ärmlichen Verhältnissen. Seither erlebt das Land ein tiefgreifender sozialer und wirtschaftlicher Wandel. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Bolivien von Weissen und Leuten aus der Oberschicht regiert. Obwohl rund 60 Prozent der bolivianischen Bevölkerung indigener Herkunft sind.
Vor Morales Amtsantritt wurden die Rechte der Indigenen nicht selten mit Füssen getreten, besonders verbale Attacken gehörten zum Alltag. «Das ist nun vorbei», sagt Flores. «Heute trifft man in den Institutionen und in der Politik auf Indígenas, und die anderen Staatsangestellten – Mestizen und Weisse – müssen mindestens eine indigene Sprache erlernen.»

Sinkende Armut, blühende Wirtschaft
Die neue Verfassung, die durch ein Referendum 2009 bestätigt wurde, definiert Bolivien als plurinationalen Staat mit 36 offiziell anerkannten indigenen Bevölkerungsgruppen. Den Indígenas wird ein besonderer Schutz ihrer kulturellen Identität, ihrer sozialen und politischen Strukturen sowie territoriale Selbstbestimmung zugesprochen. Die historischen Machtverhältnisse sollen zugunsten der indigenen Völker ausgeglichen werden.
Viele Versprechen hat der Präsident gehalten: Er hat Strassen verbessert, Wohn-, Schulhäuser, Spitäler und in La Paz ein neues öffentliches Verkehrsnetz gebaut: die Luftseilbahn – in Zusammenarbeit mit einer Schweizer Firma.
Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist gesunken. Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen vom Oktober 2017 soll sich seit 2008 die Gesundheitsversorgung in Bolivien um zwanzig Prozent verbessert haben. Im lateinamerikanischen Vergleich beispielhaft. So bekommen etwa schwangere Frauen, alte Menschen oder Schulkinder heute leichter staatliche Unterstützung zugesprochen.
Zudem ist Bildung zugänglicher geworden. «Immer mehr indigene Frauen studieren», beobachtet der Politologe Flores, der an der Universidad Mayor de San Andrés in der Hauptstadt La Paz doziert. Früher hätte man aus den Dörfern, aus Mangel an Geld, nur ein Kind in die Schule geschickt. In der Regel die Buben. Überzeugt davon, dass ein Junge mehr Chancen hätte, Karriere zu machen und Geld nach Hause zu bringen.
Das alles hat dazu geführt, dass indigene Bewohner teils in die Mittelschicht aufgestiegen sind. «Heute trifft man auf Indígenas, die in gehobenen Vierteln Häuser kaufen. Früher war das undenkbar, allein aus rassistischen Gründen», sagt Flores. «Würde, Rechte und wirtschaftlicher Aufstieg sind in Bolivien eng miteinander verknüpft.»
Auch die Wirtschaft Boliviens erlebt unter Morales einen Aufschwung. Der Andenstaat verdient sein Geld unter anderem mit dem Export von Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas und Metalle, dessen Abbau nach Morales´ Amtsantritt teilverstaatlicht wurde. So sind im Januar 2018 die Exportumsätze im Vergleich zum Vorjahr um rund 20 Prozent angestiegen. Etwa dank der hohen Gaspreise.

Würde allein reicht nicht
Doch gibt es auch eine Kehrseite der glänzenden Medaille: Zwar ist die Anzahl der Menschen in extrem armen Verhältnissen innerhalb eines Jahrzehnts um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Nach wie vor leben aber rund 39 Prozent der Bolivianer in Armut.
Besonders wenn man in ländliche Regionen fährt, in die Dörfer der kargen Anden oder des Dschungels, werden kritische Stimmen laut. Sie bemängeln, dass viel Hilfe nicht dorthin gelange, wo sie nötig wäre. «Was nützt mir die wiedergewonnene Würde als Indigena, wenn ich nichts zu essen habe», sagt etwa die Bäuerin eines abgelegenen Dorfes. In den vergessenen Gegenden würden viele Leute nach wie vor an Kälte, Hunger oder fehlendem Trinkwasser leiden. Oder an Kleinigkeiten sterben, weil sie in der Nähe lediglich einen Gesundheitsposten hätten, wo eine Krankenschwester die Stellung hält und für alle Beschwerden ein Aspirin verschreibe.
In den vergangenen Jahren kamen ausserdem diverse Korruptionsfälle ans Licht. Dabei verschwand auch Geld, das für die ärmere Bevölkerung gedacht war. Und es fiel auf, dass nicht wenige Menschen im nahen Umfeld des Präsidenten, die früher bescheiden lebten, heute Häuser, Firmen und viel Geld besitzen. Die einen sagen, dass Morales die falschen Leute um sich geschart habe. Andere sind überzeugt davon, dass er sich ebenso bereichert. Vor allem die Opposition denkt dies. Allerdings nimmt sie es nicht immer so genau mit der Wahrheit. Morales musste besonders in seiner ersten Amtszeit zahlreiche herablassende Attacken und Spott über seine indigene und bäuerliche Herkunft über sich ergehen lassen.
Was vielen Bolivianern zudem sauer aufstösst, ist die Nähe des Präsidenten zu den cocaleros, den Kokabauern. Morales, der seine politische Karriere als Gewerkschaftsführer der Kokabauern begann, kann bis heute mit dem Rückhalt zahlreicher cocaleros rechnen. Das Heikle an der Sache: im tropischen Chaparé werden Kokablätter angepflanzt, die nachweislich kaum zum traditionellen Kauen geeignet sind. Sondern für die Produktion von Kokain. Ob direkt involviert oder nicht, Morales weiss davon, ist eng betraut mit den Bewohnern dieser Region. Der Kokablätteranbau in Bolivien ist gemäss dem UN-Weltdrogenbericht gewachsen und mit ihm die Kokainproduktion.

Der Macht verfallen
Es wird Morales nicht nur die Nähe zu den Kokabauern, die Korruption oder die nach wie vor bestehende Armut vorgeworfen. Jetzt stört sich die Bevölkerung in erster Linie daran, dass ihr Präsident eine erneute Wiederwahl durchboxen möchte.
Morales befindet sich in seiner dritten Amtszeit. In einem Referendum im Februar 2016 erhoffte er sich die Zusage zu einer unbeschränkten Wiederwahl als Staatsoberhaupt. Dazu sagten die Bolivianer: Nein. Morales akzeptierte den Ausgang des Volksentscheids nicht. Letzten November liess er sich eine erneute Kandidatur durch das regierungsnahe Verfassungsgericht genehmigen. Die Bürger fühlen sich übergangen und sehen die Demokratie mit Füssen getreten. Damit hat Morales die breite Unterstützung im Volk, die er noch vor wenigen Jahren hatte, verloren. «Morales hat die Macht an sich gerissen, er kontrolliert alles», meint auch Politologe Flores. Jeder Gesetzesentwurf, den er im Parlament einreiche, würde abgesegnet, da er die Zweidrittelmehrheit hat.
Trotz aller Schwierigkeiten, die das Staatsoberhaupt in letzter Zeit hat – Proteste, Unzufriedenheit in der Bevölkerung –, ist Flores überzeugt, dass Morales 2019 wieder kandidieren und gewählt wird. «Es gibt keine Alternative, keine andere politische Figur, weder in seiner sozialistischen Partei MAS noch in der zersplitterten Opposition.» Die indigene Bevölkerung identifiziere sich mit ihrem Präsidenten und auch andere würden wohl lieber Morales wählen, als in eine ungewisse Zukunft zu steuern. Denn eines sei sicher: «Niemand will in die Zeit des Neoliberalismus zurück.»

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