Facebook – die Versuchung
Wer kennt es nicht: lesen, stöbern, ausspionieren, etwas von der Welt erfahren, wenn sonst nichts mehr geht. Kolumne.
Ich komme um 22 Uhr nach Hause. Neun lange Lektionen lang habe ich Gitarre unterrichtet. Ich bin erledigt. Was nun? Ein Buch lesen, TV schauen, Radio hören? Fehlanzeige! Zu müde für alles! Für alles? Äh nein, es gibt ja noch Facebook. Wenn gar nichts mehr geht, dann geht immer noch Facebook. Handy zücken aufs Bett liegen, und los geht’s.
Da wird mir als erstes eine Anti-Schnarch-Uhr angepriesen, die bei beginnendem Schnarchen einen fiesen hochfrequenten Ton aussende, der den Schnarchenden unbewusst dazu zwinge, sich auf die Seite zu legen, womit das Schnarchen sofort aufhöre. Diese Erfindung habe die Antischnarchindustrie revolutioniert. Spätabends lerne ich noch neue Worte: Das Wort Antischnarchindustrie war mir bisher nicht bekannt. Die Frau des Schnarchler-Werbefilms behauptet, sie hätte seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder neben ihrem Mann durchschlafen können. Sie fühle sich wie neu geboren.
Als nächstes tauchen wieder die mir nur allzu bekannten Hundebilder meiner ehemaligen Dentalhygienikerin auf. Zum gefühlt tausendsten Mal hat sie ihre zwei Schäferhunde abgelichtet und ins Netz gestellt. Diesmal tollen die beiden im Fluss, im Grünen. Der Frühling ist da. Dann: Gleich darunter werde ich aufgefordert meine Postleitzahl einzugeben, um den Wert meiner Immobilie zu errechnen, die ich momentan zum Höchstpreis veräussern könne. Doch ich will mein Haus heute Abend nicht verkaufen. Deshalb scrolle ich weiter und stosse auf das Highlight des Abends. Die deutsche Satire Zeitschrift postet: «Nach britischer, südafrikanischer und brasilianischer Mutation: AfD fodert endlich eigenes deutsches Coronavirus.»
Nun wird es aber wieder ganz bitter: Ein Musikjournalist hat in Eigenregie eine CD aufgenommen. Über die Musikqualität möchte ich mich hier nicht äussern. Bemerkenswert ist aber, wie er seine Social-Media-Werbekampagne aufgebaut hat. Täglich postet er sich als Sänger in einem dilettantisch mit Photoshop manipulierten Bild neben einem Prominenten der Weltgeschichte. Heute ist gerade Hitler dran.
Nun folgt ein Post von Selina: In einem kurzen Film verkündet ein bleicher, ungefähr dreissigjähriger bärtiger Zeitgenosse, dass es wissenschaftlich erwiesen sei, dass Gesichtsmasken nicht vor einer Corona-Ansteckung schützen würden, sondern zu Atemwegserkrankungen führten. Mir fallen die Augen zu, und ich tue das, was ich eigentlich besser schon vor einer halben Stunde hätte tun sollen: schlafen.
von:
Über
Anton Brüschweiler
Anton Brüschweiler ist Musiker, Veranstalter von Anlässen mit Geheimtipp-Potenzial in der Chäsi Gysenstein und Autor des Buches «Das AntWort – die Wahrheit des Absurden», eine Sammlung von lebensrettenden Weisheiten in einer verrückten Welt.
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