Hippies und Emanzen: Eine Spurensuche
Erst kam sie zähflüssig, durch harte Arbeit erkämpft, dann explosiv, wie platzendes Popcorn, um sich schliesslich unbemerkt, schleichend wieder davonzumachen. Die Rede ist von der Befreiung eingemotteter, verrosteter Werte durch die Hippie- und Frauenbewegung um 1970. Kolumne
1956 geboren, wuchs ich in einer Zeit versteckter Versklavung und Verlogenheit auf. Den Frauen wurden die «drei K» zugesprochen, Kinder, Küche, Kirche, und hatten höchstens im Schatten der Männer einen bescheidenen Platz als verdeckt-treibende Kraft hinter den Kulissen. Man war fromm, kirchentreu und angepasst. Eine vordergründig heile Familienwelt kaschierte oft manches verborgene Unrecht gegenüber Frauen und Kindern.
In meiner Jugend kam dann die Befreiung schrittweise in Richtung Ehrlichkeit und Natürlichkeit. Mädchen durften plötzlich Hosen tragen und rauchen, Frauen wurde auch die männliche Berufswelt erschlossen. Wir eroberten uns die Nacht- und Freizeitwelt, tanzten ekstatisch zu wilden Beats, die die braven Gesellschaftstänze ablösten. Büstenhalter wurden als unnötig und einengend weggelassen und Haare durften überall frei wachsen.
Ein Höhepunkt war, «oben ohne» zu baden, ohne als Sexualobjekt angesehen zu werden. Es fühlte sich natürlich an und wir genossen Sonne und Wind auf unseren befreiten Oberkörpern. Wir sprachen aus, was wir dachten und liessen geheuchelte und verlogene Schnörkel weg und standen für Frieden ein. Liebe und Sexualität wurden als natürliche Bedürfnisse aus den dunklen Schlafzimmern befreit. Schritt für Schritt durften wir ernten, was Vorkämpferinnen wie Alice Schwarzer oder Simone de Beauvoir freigekämpft hatten. Die Welt stand uns plötzlich offen und wir weigerten uns, uns erneut in ein enges Korsett zwängen zu lassen. Wir waren frei, laut und voller Lebensfreude!
Leider freuten wir uns zu lange, wurden träge, bequem und realisierten zu spät, wie uns die erkämpften Werte wieder genommen oder ins Negative gedreht wurden. Es begann mit einem Kantonswechsel, vom freien Aargau ins katholische St. Gallen. Plötzlich war es verpönt, «oben ohne» zu baden. Die «neu-alte» Prüderie feierte ihre Renaissance, die ihren vorläufigen Höhepunkt in Textilsaunas gefunden hat.
Selbst der subtilste Abdruck einer Brustwarze war verpönt.
Eindrücklich erlebte ich die Veränderung als Mutter aufwachsender Töchter. Plötzlich mussten «beflaumte» Körperstellen rasiert werden, Büstenhalter wurden wieder zu einem «Muss», selbst dort, wo es nur wenig zum Halten gab. Das Vakuum wurde durch schaumgummigepolsterte Modelle kaschiert, so dass die Mädchen über Nacht zu vollbusigen Kind-Frauen mutierten. Selbst der subtilste Abdruck einer Brustwarze war verpönt. Auf der andern Seite wurde die Kindermode immer sexualisierter durch superenge Leggins, tiefgeschnittene «Dekolletés», Netzstrümpfe und «Highheels». Nägel und Lippen Immer jüngerer Mädchen wurden knallrot, Selbstdarstellungen durch Selfies wurden zur liebsten Freizeitbeschäftigung der kleinen Lolitas. Natürlichkeit wurde durch eine tote, künstliche Fassade ersetzt.
Trotzdem war auch in meiner Jugend nicht alles nur positiv. So wurde die freie Liebe bald zum Zwang und man galt schnell als verklemmt, wenn man Sexualität mit einer Liebesbeziehung verbinden wollte. Traurigster Irrtum war der sexuelle Missbrauch von Kindern durch einige Pädagogen. Sie definierten ihr Verhalten als sexuelle Befreiung und damit, dass auch Kinder eine eigene Sexualität haben. Es wurde ausser Acht gelassen, dass die kindliche, entwicklungsgerechte und selbstbestimmte Sexualität nicht mit unserer Erwachsenen-Sexualität verwechselt werden darf. Was ursprünglich befreiend gemeint war, wurde durch egoistische Bedürfnisse und fehlende Empathie verfälscht und ein Verbrechen legitimiert. Werte wurden so verdreht, so dass heute Waffen und Kriege selbst bei ehemaligen PazifistInnen sowie Atomkraft bei den Grünen plötzlich wieder salonfähig sind, trotz schlechter Erfahrungen aus der Vergangenheit.
Wir sind gut im vergessen! Unsere Töchter fühlen sich trotz einengender Normen frei und emanzipiert, sitzen in «Platons Höhle» und merken nicht, dass selbst Gefängnisse mit hübschen Mauern und modischen Schlössern trotzdem noch Gefängnisse sind. Der Ausgang in die Freiheit führt jedoch auch heute noch durch Ehrlichkeit und Natürlichkeit hindurch.
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Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.
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