«Ich bin 66 Millionen Mädchen»

Seit sie elf Jahre alt ist, setzt sich die pakistanische Aktivistin Malala Yousafzai dafür ein, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen. Diese Forderung, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, machte sie zur Zielscheibe der Taliban. 2012 versuchten diese, sie umzubringen. Aus der Serie «Aussergewöhnliche Frauenbiografien».

© Nicole Maron

Am 9. Oktober 2012 hätte sie eigentlich sterben sollen. Doch stattdessen wurde sie zu einer der wichtigsten Frauenfiguren ihrer Generation. An besagtem Tag, der ganz normal begonnen hatte, schossen Taliban-Kämpfer der damals 15-jährige Malala Yousafzai auf dem Heimweg von der Schule in den Kopf. Dass sie überlebte, grenzte an ein Wunder. Es hatte unter anderem damit zu tun, dass man sie in ein spezialisiertes Militärkrankenhaus in England brachte. Dort musste man nach lebensrettenden Massnahmen plastische Rekonstruktionen des Schädels durchführen, um ihren Gehörsinn wiederherzustellen.

Dass die Taliban eine Jugendliche als so grosse Bedrohung empfanden, dass ein Attentat auf sie verübt wurde, ist bemerkenswert. Doch mit ihrem Blog, den sie seit ihrem elften Lebensjahr für den Fernsehsender BBC schrieb, hatte sich Malala ungewollt in Lebensgefahr gebracht. Um sich zu schützen, verwendete sie ein Pseudonym. Denn sie berichtete aus einer sehr persönlichen Perspektive über die Machtergreifung der Taliban in ihrer Heimat, dem nordpakistanischen Swat-Tal. Doch im Jahr 2011 kam ihre wahre Identität ans Licht, als sie von der pakistanischen Regierung mit einem Jugend-Friedenspreis ausgezeichnet wurde.

Schon damals forderte Malala, dass Mädchen Zugang zu Bildung erhalten – denn unter den Taliban wurden ihnen der Schulbesuch verboten, genauso wie das Musikhören und das Tanzen. Dass Malala dies öffentlich kritisierte, und zwar auf internationaler Ebene, war Grund genug, um zur Zielschreibe zu werden. Bereits ihr Vater, ein Lehrer und Aktivist, hatte sich für das geschlechtsunabhängige Recht auf Bildung eingesetzt und Malala in ihrem Aktivismus von Anfang an unterstützt. 2013 gründete er zusammen mit seiner Tochter die Organisation «Malala Fund», welche sich dafür einsetzt, dass Mädchen weltweit Zugang zu Bildung erhalten. «Ich bin keine einsame Stimme – ich bin diese 66 Millionen Mädchen, denen man die Bildung verweigert hat», fasste Malala die Drastik der Situation bei ihrer Nobelpreis-Rede 2014 zusammen.

Nach ihrer Operation wäre für Malala eine Rückkehr nach Pakistan lebensgefährlich gewesen. Auf Grund ihrer Geschichte erhielt sie die Möglichkeit, in England im wahrsten Sinne des Wortes ein neues Leben zu beginnen. Sie absolvierte ein Studium an der weltberühmten Oxford-Universität und machte letztes Jahr ihren Abschluss in Philosophie, Politik und Wirtschaft. Sie wurde mit einer ganzen Reihe von Preisen ausgezeichnet, und 2014 erhielt sie den Friedensnobelpreis – mit nur 17 Jahren und als bisher jüngste Preisträgerin der Geschichte. Zweieinhalb Jahre später wurde sie zur Friedensbotschafterin der UNO ernannt. Die Plattform des internationalen Parketts nutzt sie, um Regierungen und Entscheidungsträger immer wieder zum Handeln aufzurufen.

Malala ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Aktivistinnen der so genannten Generation Z, die uns schonungslos vor Augen führt, wie viel sich auch im 21. Jahrhundert noch ändern muss. Ihre Forderung ist ganz einfach und sollte eigentlich selbstverständlich sein: eine Gesellschaft, in der nicht nur alle Menschen, sondern alle Lebewesen mit gleichwertigem Respekt behandelt werden. Genauso wie heute die Pionierinnen des Frauenstimmrechts in der Schweiz gefeiert werden, wird man im nächsten Jahrhundert auf Figuren wie Greta Thunberg oder Malala zurückblicken. Und staunen, dass Themen wie Gleichberechtigung oder Klimaschutz einst für so viel Debatte gesorgt hatten und keine Selbstverständlichkeit waren.

 

Aussergewöhnliche Frauenbiografien – bisher erschienen:
Loïe Fuller, die Schlangentänzerin

 

 

 

 

 

 

Über

Nicole Maron

Submitted by christoph on Mo, 04/19/2021 - 17:25

Nicole Maron (*1980) aus Zürich ist Journalistin und Buchautorin. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Bolivien und Peru. Ihre Schwerpunkte sind umwelt- und sozialpolitische Themen wie Flucht und Migration, globale Gerechtigkeit, Konzernverantwortung und Menschenrechte. 

Von Nicole Maron ist zuletzt erschienen: «Das Blut des Flusses» – Der in Espinar/Südperu gedrehte Dokumentarfilm zeigt auf, welche gravierenden Schäden das Schweizer Bergbauunternehmen Glencore vor Ort anrichtet.
https://www.youtube.com/watch?v=9Rj7lJc1GWY