Was bisher geschah: Die Hauptstadt der Steinzeit - Der Neandertaler - Das Hotel Cro Magnon - Die Grotte des Zauberers - Der Handwerker aus der Steinzeit
Die Höhle von Rouffignac liegt in den Wäldern versteckt, wir haben Mühe, sie zu finden; das Unterholz wird immer dichter, die Wipfel der Bäume wachsen über unseren Köpfen zusammen, nur gelegentlich bricht ein Sonnenstrahl durch das Blätterdach. Wir wären besser auf der geteerten Strasse geblieben und treten, etwas unsicher geworden, in die Pedale unserer Fahrräder. Eine Weggabelung mitten im Wald lässt uns zögern. Wir nehmen den kleineren Weg, dann kehren wir um und entscheiden uns doch für den grösseren, obwohl uns der Eindruck, in die falsche Richtung zu fahren, nicht loslässt. Von beiden Seiten stossen immer neue Wege hinzu. Sie sehen sich alle ähnlich, und blicken wir dann zurück, wissen wir bereits nicht mehr, welches der unsere war. Die alten Baumriesen drängen sich näher und näher. Ihre dunkelgrünen Kronen neigen sich uns entgegen und für den Rückweg ist es zu spät.
Doch dann, unverhofft, sind wir am Ziel.
Der steinzeitliche Wald hat uns plötzlich aus seiner Umarmung entlassen. Eine am Hang gelegene Lichtung erscheint, die den Blick befreit auf das Tal und den Fluss und zugleich auf den Eingang der Höhle. Ein kleiner Kiosk mit Kasse und Ansichtskarten wartet auf uns. Der Zugang zur Grotte ist mit einem hohen Gitter versperrt.
Ein Dutzend Besucher hat sich davor versammelt, wir schliessen uns ihnen an, und endlich wird das Gittertor von innen her aufgeschlossen. Andere Höhlenbesucher strömen ins Freie, und ein jüngerer Mann, der Fremdenführer, kündigt die nächste Führung an.
Die Höhle von Rouffignac scheint sehr gross zu sein. Der tunnelartige Eingang, durch den wir gehen, weitet sich zu einem düsteren Grottensaal. Seine Fortsetzung entzieht sich unseren Blicken; doch ein Schild an der Wand darauf hin, dass die Führung eine ganze Stunde beanspruchen werde. Ein kleiner Elektrozug mit offenen Wagen steht schon bereit, und eigentlich könnten wir einsteigen - wäre nicht in diesem Augenblick hinter uns an der Kasse eine Auseinandersetzung entbrannt.
Ein Herr mittleren Alters hat seine Fotoausrüstung mit Blitzlicht offenbar in die Höhle mitnehmen wollen, was vom Fremdenführer mit der Begründung abgelehnt wird, Blitzlichtaufnahmen im Innern der Grotte seien verboten. Doch der Besucher zeigt sich uneinsichtig und protestiert.
«Hören Sie zu, Monsieur», erwidert ihm der Fremdenführer und bemüht sich, ruhig zu bleiben, «eigentlich sollte diese Höhle dem Publikum gar nicht geöffnet sein. Sie wurde während zwölftausend Jahren in Ruhe gelassen – und jetzt kommen plötzlich jeden Tag Dutzende, Hunderte von Besuchern wie Sie, bringen Bakterien, Wärme und Licht in die Höhle und überlegen sich keinen Moment, dass die Bilder darunter leiden. Andere Höhlen mussten bereits geschlossen werden!»
Der Höhlenführer ist aufgebracht, er hat sich ereifert, als ginge es um ein Heiligtum. Seine Rede verfehlt ihre Wirkung nicht: Widerwillig gibt der Besucher nach und deponiert die Kamera bei der Kasse. Dann ist es soweit, und der kleine Zug beginnt mit uns zwölf Passagieren seine Fahrt in die unterirdische Welt. Das gelegentliche Rattern der Bahn, das am Fels widerhallt, ist das einzige Geräusch in der Stille der Grotte. Einige an den Wagen angebrachte Lampen werfen ein mattes Licht auf die vorüberziehenden Höhlenwände. Von irgendwelchen Malereien ist freilich noch nichts zu sehen. Hin und wieder öffnen sich Seitengänge und verschwinden in den schwarzen Löchern der Dunkelheit: Die Höhle muss sehr verzweigt sein.
Jetzt fallen uns wannenförmige Vertiefungen im Boden auf.
«Das waren die Schlafplätze der Höhlenbären», lässt sich der Fremdenführer vernehmen. «Die Tiere hausten vor 40 000 Jahren in dieser Grotte. Achten Sie auf die Kratzspuren an den Wänden: Dort haben die Bären ihre Krallen gewetzt.»
Wir blicken genauer hin und sehen tatsächlich unzählige Kratzer im Fels. Sind wirklich 40 000 Jahre vergangen seither? Ich habe plötzlich kein Zeitgefühl mehr und komme auf den Gedanken, dass uns die Bären ganz nahe sind. Vielleicht beobachten sie uns? Das einzige, was uns noch trennt von ihnen, ist die kleine Elektrobahn. Ich halte mich fest an der Stange vor meinem Sitz; in den Händen das kühlende, glatte Metall der Gegenwart zu fühlen, tut gut.
Die Fahrt indessen geht weiter, Minuten, Jahrtausende streichen vorbei, das Mass der Zeit löst sich auf. Doch wo bleiben die versprochenen Bilder? Der Einheimische hält den Zug gelegentlich an, um uns auf Inschriften an den Wänden hinzuweisen. Französische Namen und Jahreszahlen sind schwach zu erkennen, aus dem achtzehnten, dem siebzehnten und sogar sechzehnten Jahrhundert. Immer wieder haben sich Menschen ins Höhleninnere vorgewagt; bevor sie umkehrten, kritzelten sie das Datum und ihre Namen in den ehernen Fels.
Bereits im Jahre 1575, so hören wir nun, war ein Adliger, François de Belleforest, in die Höhle vorgedrungen. Nach seiner Rückkehr berichtete er von einer wundersamen Entdeckung: Er habe Bilder gesehen, unzählige Bilder im tiefsten Innern der Erde, von unbekannten Tieren und Fabelwesen. Die Einheimischen lauschten den Schilderungen des Edelmannes mit Staunen, sie nahmen es wie ein Märchen - und als Märchen von Rouffignac blieb des Adligen Entdeckung lebendig bis in die heutige Zeit.
All jene, welche nach ihm in der Grotte ihre Inschriften hinterliessen, sie alle hatten die sagenumwobenen Bilder gesucht; doch waren sie umgekehrt, ohne fündig geworden zu sein. Sie hatten wohl plötzlich Angst bekommen.
Im Jahre 1956 erfuhren die Prähistoriker von der geheimnisvollen Grotte. Sie durchforschten sie systematisch, ohne abergläubische Scheu, und sie fanden die Bilder. Weit hinten, in zum Teil fast unzugänglichen Sälen und Gängen öffnete sich den Forschern die Welt der Steinzeit.
Der kleine Zug verlangsamt seine schlendernde Fahrt. An der rechten Höhlenwand ist überraschend die Zeichnung eines Mammuts zu sehen. Neben ihm ist ein zweites abgebildet, dann ein drittes und viertes und immer weitere folgen nach. Sie tauchen aus dem Dunkel der Höhle in den hellen Schein der Lampen, wandern an uns vorüber und verschwinden wieder im Dunkeln, eins nach dem ändern, mit übergross gezeichneten Stosszähnen, die an die Sichel des Mondes erinnern, mit buckligen Häuptern und langen Rüsseln, mit listigen kleinen Augen: So kommen und gehen sie, als würden sie aus dem Bauch der Erde in das Licht des Lebens treten, um in dieselbe Erde zurückzukehren, wieder dahin zu gehen, woher sie gekommen sind. Hinter den Mammuts folgen einige Bisons, und zuletzt kreuzt eine Reihe von Nashörnern unseren Weg: Fremdartige Tiere in Mitteleuropa!
Die Höhlenbahn kommt zum Stillstand. «Die Tiere, die Sie hier sehen», erklärt uns der Fremdenführer, «sind in Europa längst ausgestorben. Das Mammut ist überhaupt ausgestorben. Aber während der Eiszeit existierte es noch, was beweist, dass niemand sonst diese Kreaturen dargestellt haben kann als der Mensch der Altsteinzeit.»
«Die Zeichnungen sind 12 000 Jahre alt. Man hat auch die Überreste von Öllämpchen gefunden. Mit Hilfe dieser einfachen Lichter sind die Steinzeitmenschen ins Höhleninnere vorgedrungen, und dasselbe Licht hat ihnen erlaubt, diese Bilder zu malen. Die Darstellungen sind übrigens erstaunlich wirklichkeitsgetreu.»
Er sagt dies, als erstaune es ihn nicht im geringsten.
«Da waren Künstler am Werk», fährt er fort, «die ihr Handwerk vielleicht besser verstanden haben als manche Künstler der Gegenwart.»
Der Mann hat eine Abneigung gegen die heutige Zeit, das zeigt er uns deutlich. Es ist nicht die erste solche Bemerkung von ihm.
Einer von uns heutigen Menschen stellt dennoch die Frage, warum die Steinzeitmenschen, die doch weder lesen noch schreiben konnten, so gute Zeichnungen zustandebrachten?
Der Fremdenführer lächelt milde. «Nun», meint er, «sie konnten vielleicht nicht lesen oder schreiben, dafür hatten sie sehr viele andere Fähigkeiten, die wir längst verlernt haben. Grundsätzlich waren sie Menschen wie wir: so schön und so hässlich, so intelligent – und manchmal so dumm wie wir.» Er schaut uns an. Sein Blick hat etwas Spöttisches. Und die Fahrt, die uns seltsam zu verwirren beginnt, geht weiter.
Beeindruckt erkennen wir jetzt, dass wir uns mitten in einer steinzeitlichen Kunstausstellung befinden. Immer neue Tierbilder tauchen auf: Bilder von Wildpferden, Steinböcken, Schlangen und Raubkatzen, Bilder von Bisons und Nashörnern und sogar der Kopf eines Bären. Am häufigsten aber sind die Mammuts.
«Die Grotte von Rouffignac wird auch die Höhle der hundert Mammute genannt», erwähnt unser Führer, «in keiner anderen Höhle sind soviele Mammute gemalt und gezeichnet worden wie hier.»
Der kleine Zug hält erneut, wir haben die Endstation erreicht, weiter kommt man nur noch zu Fuss. Nachdem unser Begleiter eine im Fels verborgene Lichtquelle herbeigezaubert hat, geht er voraus. Der Höhlenpfad führt leicht abwärts, und wir gelangen nach kurzer Zeit zu einem niedrigen, schwach beleuchteten Raum.
Teil 4 folgt am 31. Juli: Der Heilige Weg - Das Grosse Wesen - Das Dornröschenschloss
«Im Land der Vergangenheit» stammt aus dem Buch von Nicolas Lindt «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte und Dorfgeschichten» (4. Auflage 2019). Der Autor unternahm die Reise in die Steinzeit Ende der 80er-Jahre, aber alles, was er beschreibt, ist in der französischen Dordogne auch heute noch zu entdecken.