Ein Nachruf auf Hugo Blanco – den «peruanischen Che Guevara»: Der Freiheitskämpfer, Politiker und Autor wurde bewundert, geliebt, diffamiert und verfolgt. Nun ist er mit 88 Jahren verstorben. Die indigene Bevölkerung in Peru erwies ihm in einer tagelangen Zeremonie die letzte Ehre.

Foto: Miguel Gutierrez

«Presente!» – «Anwesend!» –, so schallen tausende von Stimmen wieder und wieder über den Almudena-Friedhof in Cusco. Die ehemalige Inka-Hauptstadt wurde zur letzten Ruhestätte des Widerstandskämpfers Hugo Blanco Galdós. Am Tag seiner Beerdigung ist die ganze Stadt erfüllt von Klagerufen und Abschiedsreden, aber auch von Musik, Tanz und Umarmungen.

In der Hauptstadt Lima – nicht nur geographisch, sondern kulturell und ideologisch weit vom indigenen Hochland entfernt – wurden währenddessen Stimmen laut, die Blanco als Mörder und Verräter bezeichneten. Denn Blanco, der in einem Quechua-Dorf aufgewachsen war, hatte sich jahrzehntelang für die Rechte von Bauern, Gewerkschaftern und ländlichen Gemeinden eingesetzt und zu den glühendsten Vorkämpfern der Agrarreformen gehört.

Blanco bestärkte die Bauern darin, die Arbeiten für die Grossgrundbesitzer einzustellen und nur noch ihre eigenen Parzellen zu bearbeiten.

Er hatte für ökologische Gerechtigkeit und Umweltschutz gekämpft, für den Schutz des Regenwaldes und gegen die Vergiftung des Landes durch industrielle Landwirtschaft. Die indigene Kosmovision respektvoller Beziehungen zwischen Mensch und Natur war für Blanco so zentral, dass er bei der indigenen Bevölkerung als Anführer verehrt wurde – obwohl er selbst sich nicht als solchen sah. «Ich glaube generell nicht ans Anführertum. Sondern an kollektive Entscheidungsprozesse, an den Willen des Volkes.»

Durch sein politisches Engagement, aber auch weil er dafür sorgte, dass die ländliche und indigene Bevölkerung ein Gesicht und eine Stimme im Land bekam, brachte er die reiche Elite des Landes gegen sich auf. Zum ersten Mal in den 60er Jahren, als er mit dem Bauernverband «Confederación Campesina del Perú» für die Landrechte der Indigenen kämpfte. Damals gehörte das Land nicht den Bauern, die schon seit Jahrhunderten dort lebten, sondern reichen Grossgrundbesitzern, die die Indigenen ohne Bezahlung auf ihren Haciendas arbeiten liessen. Ein bitteres Erbe der Kolonialzeit, in der spanische Eroberer vom peruanischen Staat Land erhalten hatten, das vorher von Indigenen kultiviert worden war. Die Haciendas breiteten sich immer mehr aus, und Gewalt und Diskriminierung waren an der Tagesordnung. Davon wurde Hugo Blanco bereits in seiner Kindheit Zeuge, als er sah, wie ein Grossgrundbesitzer einem indigenen Arbeiter mit einem glühenden Eisen ein Brandzeichen in den Hintern brannte.

Blanco bestärkte die Bauern darin, die Arbeiten für die Grossgrundbesitzer einzustellen und nur noch ihre eigenen Parzellen zu bearbeiten. Das Land zurückzufordern, das ihnen weggenommen worden war, war der Versuch, altes Unrecht zu beenden. Doch in den Augen der Regierung stellte dies einen Landraub an den Grossgrundbesitzern dar – die entrechteten Indigenen waren aus ihrer Perspektive die Delinquenten. So eilte die peruanische Polizei den Hacienda-Besitzern zu Hilfe, und zwar mit Waffengewalt.

«Die Polizei sagte zu uns: ‹Was wollt ihr, unverschämte Indios? Wenn ihr den Hacienda-Besitzern das Land wegnehmt, haben sie sehr wohl das Recht, euch zu töten.› Tatsächlich schossen sie auf uns, ohne mit der Wimper zu zucken. Deshalb wurde ich von der Bauernvereinigung damit beauftragt, zu Selbstverteidigungszwecken unsere Bewaffnung zu organisieren», erzählte Blanco 2015 in einem Interview.

Was wollt ihr, unverschämte Indios? Wenn ihr den Hacienda-Besitzern das Land wegnehmt, haben sie sehr wohl das Recht, euch zu töten.

In einer tätlichen Auseinandersetzung kam es zu einem Schusswechsel zwischen Blanco und einem Polizisten, bei dem klar war, dass der Schnellere überleben würde – das war Blanco. Jetzt galt Blanco offiziell als Terrorist. Seine Gewerkschaft wurde mit der Organisation «Sendero Luminoso» (Leuchtender Pfad) in einen Topf geworfen, die ebenfalls linkes Gedankengut vertrat. Dass Blanco sich vom Sendero distanzierte, spielte für seine Gegner keine Rolle.

War Hugo Blanco ein Mörder und Terrorist, weil er einen Polizisten erschoss? Oder war er der Held, als den die indigene Bevölkerung ihn betrachtet, weil er für soziale Gerechtigkeit und gekämpft hat? Ein Vorkämpfer für diejenigen, die sich heute gegen transnationale Konzerne auflehnen, welche Land und Menschen genauso ausbeuten wie damals die Grossgrundbesitzer? Über diese Frage könnte man lange diskutieren. Doch Fakt ist, dass die peruanische Regierung sich damals wie heute auf die Seite derer stellte, die ohnehin schon alles haben: Macht, Geld und starke Allianzen. Und dass die indigene Bevölkerung, die für ihre Grundrechte kämpft, als sture Fortschrittsgegner, als Terroristen und als Menschen zweiter Klasse abgestempelt wird, wenn sie sich wehren – egal ob mit Protesten oder mit Worten.

Auch damals schlug die Regierung den «Bauernaufstand» nieder und verhaftete die «Rebellen». Dennoch führte dieser Kampf zu verschiedenen Reformen, zum Ende des Grossgrundbesitzes und zur Enteignung der riesigen Haciendas mit ihren agroindustriellen Betrieben. Blanco, der entscheidend zu dieser ausgleichenden Gerechtigkeit beigetragen hatte, sollte 1963 hingerichtet werden. Diverse internationale Organisationen und Persönlichkeiten setzten sich für ihn ein, unter anderem Amnesty International Schweiz sowie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. So wurde er wegen Vaterlandsverrat «nur» zu 25 Jahren Haft verurteilt, die er auf der Gefängnisinsel El Frontón im Meer vor Lima antrat.

Der Staatspräsident Juan Velasco liess ihn nur sieben Jahre später frei und schickte ihn ins Exil. Er lebte in Argentinien, Chile, Schweden und Mexiko, wo er auch sein Hauptwerk «Tierra o Muerte» (Land oder Tod) schrieb, das inzwischen in diverse Sprachen übersetzt wurde. Sechs Jahre später kehrte er nach Peru zurück, wurde mit grosser Mehrheit in ein politisches Amt gewählt und war an der Erarbeitung der neuen Verfassung beteiligt, die den Übergang von der Militärregierung zurück zur Demokratie ermöglichen sollte.

Dass er als offizieller Staatsvertreter nicht im Anzug auftrat, sondern im Wollpullover oder im Poncho, mit seinem legendären Strohhut, die Hose statt mit einem Gürtel mit einem Strick zusammengebunden, war für viele ein Affront – für andere jedoch ein nie vorhergesehener Triumph. Die indigene Bevölkerung, die seit Jahrhunderten diskriminiert, abgewertet und misshandelt worden war, war plötzlich in der Hauptstadt präsent – durch Hugo Blanco, der viel mehr vertrat als nur seine persönlichen Überzeugungen.

1983 bezeichnete Blanco General Clemente Noel als Mörder, weil dieser gegen den Sendero Luminoso besonders gewalttätig vorgegangen war. Er wurde vom Parlament suspendiert und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Kaffeeverkäufer auf dem Hauptplatz von Lima. Drohungen des peruanischen Sicherheitsdienstes und vom Sendero brachten nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Familie in Gefahr. So verliess er Peru wieder und kehrte erst 1997 wieder zurück.

War Hugo Blanco ein Mörder und Terrorist, weil er einen Polizisten erschoss? Oder war er ein Held, weil er für soziale Gerechtigkeit und gekämpft hat? 

Sein restliches Leben widmete Blanco nebst dem politischen Engagement dem Schreiben und der Öffentlichkeitsarbeit. Er gab eine Monatszeitschrift heraus und schrieb viel, unter anderem sein zweites Hauptwerk «Nosotros los indios» (Wir Indigenen). «Er hat sein Leben lang gekämpft und sich nie zur Ruhe gesetzt», sagte Blancos jüngste Tochter Maria im Rahmen der Trauerfeierlichkeiten. Sie hatte ihren Vater in unzählige Gemeinden begleitet, die er bei ihrem Kampf unterstützte – zum Beispiel nach Puno, wo Ende der 80er Jahre mehr als eine Million Hektar Land an indigene Gemeinschaften zurückgegeben wurde, oder nach Pucallpa, wo mehrere indigene Widerstandskämpfer auf dem Hauptplatz hingerichtet wurden.

Durch seinen jahrzehntelangen Einsatz hat sich Hugo Blanco viele Feinde gemacht. Doch die beeindruckende Anzahl von Menschen, die an den Abschiedsfeierlichkeiten des Aktivisten teilnahm, zeigte seine Bedeutung für die Bevölkerung des Hochlandes. Vertreterinnen und Vertreter aus den unterschiedlichsten Gemeinden, ländlichen Basisorganisationen und NGOs, Politikerinnen und Politiker sowie tausende von Privatpersonen sprachen ihre ganz persönlichen Abschiedsworte.

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Totenwache in Cusco. Foto: Miguel Gutierrez

Zu Beginn des Trauerzugs trugen Blancos Söhne und Töchter seinen Sarg, doch dann wollten immer mehr Menschen sie ablösen und die Ehre haben, ihn für ein kleines Wegstück auf ihren Schultern zu heben. Bis hinauf zum Almudena-Friedhof, der auf einem Hügel am Rande von Cusco liegt. Dort schlugen die Emotionen noch einmal hoch, und wieder und wieder wurde nach andiner Tradition der kollektive Ruf «Presente!» laut, der so viel sagt wie: «Der Verstorbene weilt weiterhin unter uns und wird uns in unserem Bestreben begleiten.» Fürs Begräbnis hatte Blancos Familie eine Metapher gefunden, die nicht passender hätte sein können: «Hugo wird an die Erde übergeben wie eine Saat, so dass er im Volk wieder aufblüht.»

So verwandelte sich die Trauer in ein Fest des Lebens, bei dem sich bekannte und wildfremde Menschen weinend und lachend in den Armen lagen und zur Musik zu tanzen begannen, die die Totenwache und den Trauerzug zwei Tage lang begleitet hatte: Musik der Anden, der Erde von Hugo Blanco, mit Panflöten, Trommeln und dem zeremoniellen Pututu-Muschelhorn – wie es hier üblich ist.

 


2019 wurde der Dokumentarfilm «Rio Profundo» (Tiefer Fluss) veröffentlicht, der Hugo Blanco als Menschen und als Aktivisten porträtiert. Der Film wurde international mehrfach ausgezeichnet und ist mit deutschen Untertiteln online verfügbar: www.hugoblancofilm.com/english/deutsch/