Chapeau! für das Kontinuum – und einen weisen Umgang mit Kindern
Mit ihrem Buch «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück» von 1974 setzte Jean Liedloff einen weltweiten Impuls, aus tradiertem, alten Wissen unser Verständnis und Umgang mit den Babies grundlegend zu verändern.
Ihre Erkenntnisse aus mehreren langen Besuchen bei den Yequana-Indianern in Venezuela gehen weit über die Themenfelder Tragen, Körperkontakt und Stillen hinaus. Unter dem Begriff Kontinuum beschreibt Jean Liedloff sehr ausführlich und pionierhaft, welche Bedingungen die kindliche Entwicklung, geprägt in den paar Millionen Jahren unserer Evolution, bräuchte.
Eindrücklich zeigt sie auf, dass es für jeden Entwicklungsschritt von zentraler Bedeutung ist, dass das Kind dafür die Bedingungen vorfindet, die es aus dieser tiefen Prägung erwartet. Der folgende Ausschnitt ist eine ganz kurze Schilderung was geschieht, falls diese Erwartungen erfüllt sind und was die Folgen sind wenn das nicht der Fall ist.
«...Wenn dem Baby durch die Erfahrung des Getragenwerdens alle damit verbundene Sicherheit und Anregung in vollem Masse zuteil geworden sind, kann es sich dem Kommenden, dem Draussen, der Welt jenseits der Mutter, freudig zuwenden, voller Selbstvertrauen und gewöhnt an ein Wohlgefühl, das seine Natur aufrecht zu erhalten neigt. Erwartungsvoll sieht es der nächsten Folge angemessener Erfahrungen entgegen.
Jetzt beginnt es zu kriechen, wobei es häufig zurückkehrt, um sich der Gegenwart seiner Mutter zu vergewissern. Findet es sie in steter Bereitschaft, so wagt es ich weiter hinaus und kehrt weniger häufig zurück, wobei das Kriechen (auf Ellbogen, der Innenseite der Beine und den Bauch) allmählich in ein Krabbeln (auf Händen und Knien) übergeht; seine zunehmende Beweglichkeit hält dabei Schritt mit seiner Neugier auf das umgebende Gelände, wie das Kontinuum es vorsieht.
Das Bedürfnis nach Körperkontakt nimmt, wenn das entsprechende Erfahrungskontingent erfüllt worden ist, rasch ab, und normalerweise verlangt ein Baby, Krabbelkind, Kleinkind oder Erwachsener nur in Augenblicken von Stress, denn es mit seinen gegenwärtigen Kräften nicht bewältigen kann, nach Unterstützung seiner so erlangten Fertigkeiten.
Diese Augenblicke werden zunehmend seltener und das Selbstvertrauen nimmt so rapide an Tiefe und Umfang zu, dass es jedem, der nur Kinder der Zivilisation kennt, welche der vollständigen Erfahrung des Getragenwerdens beraubt sind, erstaunlich vorkommen muss.
Wenn Kinder auf einigen Entwicklungsgebieten voraus sind, während andere zurückhängen, weil sie noch auf Vervollständigung warten, so ist die Folge einer Spaltung ihre Motive: Sie sind nicht fähig, etwas zu wollen, ohne zu gleich zu wollen, dass sie Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sind; noch sind sie je im Stande, sich konzentriert dem jeweils vorliegenden Problem zuzuwenden, dürstet doch ein Teil von Ihnen noch immer nach der sorglosen Euphorie des Säuglings in den Armen eines Menschen, der alle Probleme löst.
Sie können auch nicht gänzlich von ihrer zunehmenden Kraft und Fähigkeit Gebrauch machen, solange noch ein Teil von ihnen sich danach sehnt, hilflos getragen zu werden. Jede Anstrengung steht in gewissen Masse in Konflikt mit deinem darunter verborgen Wunsch nach dem mühelosen Erfolg des geliebten Babys. ...»
Je länger man in diesem spannenden Buch liest, je klarer wird erkennbar, wie weit wir uns von einer Lebensweise und Lebenswelt entfernt haben, die dem «biologischen Programm» der kindlichen Entwicklung entspricht und wie weitreichend die Folgen daraus für unser gesamtes Leben sind.
Wir können diesem Buch sehr gut entnehmen, welches die prägendsten und wichtigsten Bedingungen für eine gelingende MenschenBildung sind. Viele wesentliche Elemente davon liessen sich in unser heutige Lebensweise integrieren, wenn wir darum wissen, uns ein Bewusstsein erarbeiten, unsern eigenen inneren Impulsen wieder vertrauen und in der Folge unser Leben mit den Kindern entsprechend umgestalten.
Dies ist das Kernanliegen meines Schaffens und dem Verein MenschenBildung, das wir mit immer wieder andern Texten, Veranstaltungen und Fachpersonen allen Menschen näher bringen möchten. Gerade im digitalen Zeitalter und in einer immer mehr ökonomisch geprägten Gesellschaft stehe ich manchmal vor der Frage, ob wir mit diesem Anliegen auf total verlorenem Posten stehen. Zu wissen, dass deswegen auch gerade nötiger denn je ist, ist aber Grund genug um dranzubleiben.
Mehr:
Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Veranstaltungen von Menschenbildung:
Freilandhaltung auch für Menschenkinder?
Besuch in der VILLAMONTE, einer Schule, wo jedes Kind immer das tun kann, was es wirklich tun möchte
Mit Schulleitung der Villa Monte, Lisa Rutz und Franziska Schälin, der Kinderhausleiterin Vicki Green, und dem Villa Monte Team
Die Villamonte ist ein Ort, wo 4–17 jährige Kinder und Jugendliche in Bewegung bleiben und frei entscheiden, wo sie tätig sein möchten, sei es drinnen oder draussen. Sie bietet den Kindern und Jugendlichen eine Umgebung an, die ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen entgegenkommt.
Ja, eine solche Schule gibt es! Seit 40 Jahren. Ja, es funktioniert ! Kinder wissen, was sie tun möchten, es gibt keine Notwendigkeit sie zu unterrichten. Schaut rein und erlebt die Kinder am Vormittag. Kommt mit euren Fragen, eigenen Gedanken und diskutiert mit dem Team beim gemeinsamen Mittagessen und am Nachmittag.
Freitag 15. September, in Galgenen (SZ)
mehr Infos/Anmeldung
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können