Chapeau vor Vandana Shiva: Die Freiheit aller Lebewesen verteidigen!

Die indische Atomphysikerin Vandana Shiva gehört zu den einflussreichsten und konsequentesten Aktivistinnen für Leben, Natur und Nachhaltigkeit. Sie verbindet Kampf gegen Globalisierung mit dem Einsatz für Saatgut-Autonomie und weibliche Werte. Am Samstag wird sie 70 Jahre alt.

CC Frank Schwichtenberg

Zum ersten Mal begegnete ich ihr 1992 auf dem Umweltgipfel in Rio. Sie war eine dieser wortgewaltigen und selbstbewussten Frauen aus dem globalen Süden, die den Alternativgipfel so prägten: Es war meine erste Begegnung mit Ökofeminismus. Was für eine Kraft! 

Ein paar Jahre später interviewte ich Vandana Shiva auf einem Kongress in Bremen. Ich erinnere mich an einige präzise, äusserst eloquente und kämpferische Sätze, geprägt von grosser Selbstsicherheit. Mit der schob sie mich dann auch etwas unsanft beiseite, um mit Journalisten grösserer Blätter zu sprechen. Keine Frage, sie hatte etwas zu sagen. Ich fand ihren Mangel an «weiblicher» Zurückhaltung erfrischend und vorbildlich. 

Dass das auch persönliche Opfer erforderte, erfuhr ich 1999. Auf einer mehrtägigen Konferenz des Right Livelihood Award in Salzburg war sie im Zimmer neben mir untergebracht. Beim Einchecken hörte ich sie wohlig seufzen: «Ich weiss nicht, wie lange es her ist, dass ich so viele Nächte hintereinander im selben Bett geschlafen habe.»

Ihre jetzt erschienene Autobiographie «Terra Viva» (Neue-Erde-Verlag) ist wie eine weitere Begegnung mit ihr. Wir tauchen in ihre Kindheit im nördlichen Indien ein. Gemeinsam mit ihren Eltern – einem früheren Militär und späteren Waldschutzbeauftragten und einer früheren Schulinspektorin und späteren Bäuerin – streifte sie durch die Bergwälder. «Meine innigsten Kindheitserinnerungen sind der Anblick, die Geräusche, Geschmäcker und Gerüche der Himalaya-Wälder, in denen ich aufgewachsen bin. Sie wurden meine körperliche und geistige Wiege.»


Trailer zum Film: Ein Leben für die Erde
 

Der andere Teil ihrer Erziehung fand im Elternhaus statt: «Unser Zuhause war ein offenes Haus für soziale Aktivisten, Dichter und Intellektuelle; seine anregende Umgebung muss Teil der inoffiziellen Erziehung gewesen sein, die ökologische Werte und Werte der sozialen und wirtschaftlichen Gleichheit für mein Leben und meine Arbeit zur Grundlage gemacht haben.»

 

«Die Monsantos dieser Welt haben das Saatgut nicht erfunden. Nur gestohlen.»

Sie studierte Atomphysik, doch entdeckte bald die Abgründe und wirtschaftlichen Abhängigkeiten moderner Naturwissenschaft. «Bevor ich nach Kanada ging, um zu promovieren, wollte ich meine Lieblingsorte im Himalaya besuchen, aber die Wälder und Bäche waren durch den Irrsinn, Dämme und Strassen zu bauen, verschwunden.»

Egal wer in Indien gerade die Macht hatte, ob eine Kolonialmacht, eine Regierung oder die Konzerne: Alle liessen den Wald abholzen. Dann kam die Chipko-Bewegung (wörtlich: «sich klammern»). Immer wieder umklammerten vor allem Frauen und lokale Gemeinschaften Bäume in Wäldern, die gefällt werden sollten. Sie verjagten Holzfäller, retteten Wälder. Shiva: «1974 beschloss ich, während meines Studiums der Quantentheorie jeden Urlaub dazu zu nutzen, ehrenamtlich bei Chipko mitzuarbeiten. Und das habe ich dann auch getan. Ganz klar: Chipko war meine Universität für Ökologie.»

Die junge Wissenschaftlerin lernte vor allem, dass «biologische Vielfalt das Herzstück nachhaltigen Wirtschaftens ist und dass die Natur die Grundbedürfnisse der grossen Mehrheit in der Welt deckt». Und noch eine Erkenntnis: Nicht Universitäten und Naturwissenschaftler, sondern «Frauen und indigene Gemeinschaften sind die wahren Hüter des Wissens über die biologische Vielfalt.»

1984 ist ein Schicksalsjahr für ihre Entscheidung, ihr Leben nicht der Wissenschaft, sondern dem Aktivismus zu widmen. Zunächst zeigt ihr grosse Dürre, dass die industrielle Landwirtschaft, die weltweit propagiert und umgesetzt wurde, grundfalsch ist. Dann kommt es zur Katastrophe von Bhopal: eine Chemiefabrik des amerikanischen Pestizid-Herstellers Union Carbide setzt mehrere Tonnen Giftgas frei. An dessen unmittelbaren Folgen sterben 10.000 Menschen, bis heute leiden die Nachkommen unter Beschwerden. Und es ist das Jahr des Punjab-Aufstandes mit vielen Todesopfern. Vandana Shiva sah den tieferen Grund für den Aufstand ebenfalls in der modernen Landwirtschaft und der sozialen und kulturellen Entwurzelung: Die Kleinbauern gerieten in den Teufelskreis von Chemiedüngern, Hybridsaatgut und Pestiziden, verschuldeten sich und verloren ihr Land. Regionale Kreisläufe und Traditionen, die gewachsenen Verbindungen zum Boden und in den Gemeinschaften zerbrachen. Shiva: «Wer Saatgut kontrolliert, kontrolliert das Leben auf der Erde.» Viele Bauern begingen Selbstmord oder strandeten in den Städten. In den Augen von Vandana Shiva zeigte die Entwicklung auch die zunehmende Patriarchalisierung: die Vermännlichung unserer Kultur und damit einhergehend Profit- und Machtstreben einschliesslich Militarisierung und Gewalt. 


Vandana Shiva 2014

Bald wird sie im Land heftig kritisiert, weil sie angeblich Fortschritt verhindern und Armut erhalten wolle. Doch weltweit fand sie politische Freunde. Immer mehr Menschen sahen die Zusammenhänge zwischen der Zerstörung von Arten- und Saatgutvielfalt, dem Verlust ursprünglicher Gemeinschaften, Bodenfruchtbarkeit sowie der Zerstörung weiblicher Werte. Im Kern stand der Kampf gegen das Leben selbst. Entschlossen bekämpfte Shiva Globalisierung, Gentechnik, Konzernherrschaft und Saatgut-Patentierung. Doch sie erschöpfte sich nicht im «Protest gegen», sie bot auch Alternativen an. Ihre etwa 120 Saatgutbanken retteten u.a. 3000 Reissorten und gaben kostenlos Saatgut ab. Ihre «Earth University» bildete auch mehr als 100.000 Bauern im biologischen Landbau aus. Ihr Ziel ist «Friedenslandwirtschaft»: chemiefrei, mit einheimischen Saatgut, in den Händen regionaler Gemeinschaften. 

Für die Einbeziehung lokaler Gemeinschaften und weiblicher Werte in den Umweltschutz erhielt sie 1993 den «Right Livelihood Award». Sie schrieb zahlreiche Bücher, ist unermüdlich als Vortragsrednerin unterwegs und gewann viele Preise und zahlreiche Kämpfe, auch vor Gericht. Wenn ich jetzt Videobotschaften von ihr sehe, finde ich, dass sie Ruhe und Gewissheit dazu gewonnen hat. Wenn ich ein Hut hätte, würde ich ihn vor ihrer Kraft und Unkorrumpierbarkeit ziehen. Sie ist eine vorbildliche Aktivistin, denn ihre Quelle ist die Liebe, wie sie in einem Interview 2021 sagte: «Alles, woran ich arbeite, entspringt meinem Innersten, meiner Liebe zum Leben und meiner Liebe zur Freiheit. Es geht darum, das Leben im Geist der Liebe und die Freiheit im Geist des Widerstands gegen die Unfreiheit zu verteidigen.»

Am 5. November wird sie 70 Jahre alt. Ich wünsche ihr, dass sie ab und zu Zeit findet, in ihren geliebten Wäldern herumzustreifen. 

 

Glückwünsche sind hier willkommen:

www.vandana-shiva.de