Das Geheimnis der Farbe

Ist das, was für mich rot ist, für andere vielleicht blau? Diese Frage habe ich mir als kleiner Junge immer wieder gestellt – eine Kinderfrage, auf die es keine Antwort gibt. Auch als Erwachsene können wir nicht mit letzter Gewissheit sagen, dass die Farben, die wir wahrnehmen auch die sind, die andere sehen. Bestimmte Farben haben zwar spezifische Wellenlängen, aber ob der Reiz auf der Netzhaut im einen Gehirn dasselbe Rot erzeugt, wie in einem anderen, das wissen wir nicht. Wir können nicht die Bilder der anderen Menschen sehen.
Die Physik weiss über die Farben einiges, vom langwelligen, warmen Rot bis zum kühlen Violett am anderen Ende des sichtbaren Spektrums mit Wellenlängen von 380 bis 780 Nanometer. Aber die Biologie, die Wissenschaft des Lebens, weiss über das Licht und die Farben, aus denen es zusammengesetzt ist, herzlich wenig. Vielleicht will sie es auch nicht wissen. Denn jedesmal, wenn ein forschender Geist die Zusammenhänge zwischen Licht und Leben, Farben, Körper und Gefühlen ergründen wollte, wurde er aus der Gemeinde der Wissenschaft ausgestossen. Dies ist dem amerikanischen Arzt Edwin D. Babbit (1828–1905), dem indischen Mediziner Dinshah Ghadiali (1873–1966), dem österreichischen Psychiater Wilhelm Reich(1897–1957), dem Schweizer Psychologen Max Lüscher (*1923) oder dem deutschen Physiker Fritz-Albert Popp (*1938) so ergangen. Die Farben scheinen ein Geheimnis zu verbergen.

Farben sind mehr als die subjektive Wahrnehmung von Licht unterschiedlicher Wellenlänge, sondern wirken auf alle Menschen ähnlich. So hat der Psychologe Max Lüscher, der Vater des legendären Farbtests, festgestellt: «Die Farbwahrnehmung ist für alle in allen Kulturen genau gleich. Sie ist objektiv und universell.» Rot steht immer Vitalität, im Busch, in der Grossstadt, in China und in Südamerika.
Dass Farben eine enorme Wirkung ausüben, zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Kulturgeschichte der Farbe im Zeitraffer: Bis zur Industrialisierung war die Natur bunt und vielfältig, die Kleidung des Volks dagegen beige und braun. Nur die oberen Schichten konnten sich Farben an Bekleidung und Behausung leisten – je reicher, desto mehr. Farbe war dabei mehr als ein Erkennungsmerkmal. Selbst die Soldaten der Mächtigen zeigten sich in bunter Bekleidung, während sich die Waffenbrüder der unteren Schichten – Räuber und Banditen – lieber auf die bessere Tarnung von Naturtönen verliessen.
Mit der Industrialisierung begann sich das Blatt zu wenden: Farbe wurde billiger, die Macht anonymer, vor allem als Folge der Geldwirtschaft. Man möchte sogar behaupten: Die Macht musste anonymer werden, um sich besser zu schützen. Heute beschränkt sich die bunte Pracht der Potentaten auf ihre folkloristischen Überbleibsel: die Königshäuser und die katholische Kirche. Die wirkliche Macht ist grau und unsichtbar.
Die Kraft der Farben zeigt sich symbolisch an der Kriegsbemalung indigener Völker. Offensichtlich übertrafen die Energien der Farben alle Nachteile der schlechteren Tarnung. Wer sich Mann gegen Mann bewähren muss, hat einen Vorteil, wenn er grösser und stärker erscheint. Heute bekriegt man sich dagegen – wenn nicht ausnahmsweise aufmarschiert wird – unsichtbar und aus dem Hinterhalt.

Der Mensch und mit ihm die gesamte Kreatur schwimmt fortwährend in einem riesigen Ozean elektromagnetischer Wellen. Warum nehmen wir nur einen kleinen Ausschnitt davon wahr, das sichtbare Licht? Tiere haben zum Teil eine weit bessere Wahrnehmung: Vögel – und Fledermäuse als einzige Säugetiere – sehen sehen ultraviolett, Reptilien infrarot und Hammerhaie tasten das Magnetfeld des Meeresbodens ab. Die Antwort erahnen wir, wenn wir wissen, dass die Körperzellen untereinander ebenfalls über elektromagnetische Wellen kommunizieren, zwar äusserst schwachen, aber im Bereich der Wellenlängen des sichtbaren Lichts. Erst die Farbwahrnehmung erlaubt uns, die Lichtdefizite des Körpers selektiv auszugleichen, zweifellos eine Fähigkeit mit evolutionärem Vorteil. Das würde auch erklären, warum die Farben in der Geschichte den oberen Schichten und für spezielle Gelegenheiten vorbehalten waren.
Aber warum leben wir heute in einem vorwiegend grauen und weissen Einerlei, in dem sich die kräftigen Farben auf Werbebotschaften und Warnsignale beschränken? Darüber kann man nur spekulieren. Die grelle, von Farbpsychologen optimierte Propaganda illustriert die Macht des Kommerzes und überhäuft uns mit synthetischen Reizen, die wir gar nicht mehr verarbeiten können. Im Hintergrund lauert die graue Macht, die uns so vielen Zwängen aussetzt, dass wir es nur noch ausnahmsweise wagen, uns den Farben des Lebens auszusetzen. Dann doch lieber die Lebensenergien zurückbinden anstatt Farbe zu bekennen. Der Befreiungsprozess könnte zu unangenehm sein.

Eines der eindrücklichsten Beispiele aus neuer Zeit ist die Geschichte von Harvey Milk, des ersten Politikers der USA, der sich zu seiner Homosexualität bekannte und mit seinem Vorbild Hunderttausende zu einem coming out motivierte. Man kann sich heute fast nicht mehr vorstellen, dass in den 70er Jahren Homosexualität noch ein «Verbrechen wider die Natur» war, das mit Gefängnis bestraft wurde. Milk hat seinen Mut mit dem Leben bezahlt. Aber ohne ihn die Welt wäre heute nicht nur um einige Farben ärmer, sondern auch ein gehöriges Stück weniger ehrlich.

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