«Das Spiel der Angst nicht mitspielen» - zwischen den Fronten Kolumbiens

Sabine Lichtenfels, Mitgründerin der Friedensgemeinschaft Tamera in Portugal, besucht derzeit gemeinsam mit Andrea Regelmann das Friedensdorf San José de Apartadó in Kolumbien. In unserer Reihe «3 Fragen» sprechen sie mit Brigida Gonzales, die von Anfang an in dem Dorf lebt, das sich zwischen allen Fronten für Versöhnung und Frieden entschlossen hat.

(c) v.l.n.r.: Andrea Regelmann, Brigida Gonzales, Sabine Lichtenfels

Die Friedensgemeinschaft San José de Apartadó liegt in der nördlichen Region von Urabá. Es ist ein Gebiet, das von verschiedenen bewaffneten Gruppen wegen seiner strategischen Lage und natürlichen Ressourcen heftig umkämpft wurde und immer noch wird. Die Bauern von San José de Apartadó waren am 23. März 1997 zusammengekommen, nachdem sie von ihren Grundstücken vertrieben worden waren, Angehörige verloren hatten bzw. von verschiedenen bewaffneten Gruppen bedroht worden waren. Sie erklärten ihrer Regierung und der Welt, dass sie ihr Land nicht verlassen würden, sondern als Akt des gewaltlosen Widerstands eine Friedensgemeinschaft gründen würden. Sie wurden darin von dem Jesuitenpater Javier Giraldo und der damaligen Bürgermeisterin von Apartadó, Gloria Cuartas, sowie von internationalen Menschenrechtsorganisationen unterstützt. 

San José

Hintergrundinformationen über die Friedensgemeinde: tamera.org/de/friedensgemeinschaft-kolumbien

Tamera kam 2001 mit der Gemeinschaft in Berührung. 2005 vertieften wir die Kooperation. Und 2008 führten wir die erste Pilgerschaft rund um die Dörfer der Friedensgemeinschaft durch. Anschliessend organisierten wir eine gemeinsame Lehrveranstaltung mit der «Universität des Widerstandes», die sie dort gegründet haben. Wir wollen ihre wichtige Rolle als Modell- und Ausbildungszentrum für Frieden, Gemeinschaftsbildung und Autonomie im ganzen Land und in der Welt stärken. Die öffentliche Anerkennung und Aufmerksamkeit ist ihr grösster Schutz.

Die Botschaft des Friedensdorfes ist: Die Wunden des Krieges können heilen, auch bei den schlimmsten Grauen.

Die Gemeinschaft erkannte auf ihrem Weg, dass die Wunden des Krieges heilen und das Potenzial für Anteilnahme, Vergebung und Zusammenarbeit in Menschen aktiviert werden kann. Sie machten die Erfahrung an sich selbst, dass Heilung trotz des schlimmsten Grauens, das sie erlebt haben, möglich ist. Damit können und wollen sie ein Beispiel setzen für andere.

Bis heute hält sich die Friedensgemeinde an folgende Prinzipien:

• Teilnahme an der Gemeinschaftsarbeit

• Widerstand gegen Ungerechtigkeit

• Verzicht auf Waffen sowie direkte oder indirekte Teilnahme am bewaffneten Konflikt

• Keine Informationsweitergabe an die am Konflikt beteiligten Parteien

• Keinen Konsum oder Verkauf von Alkohol oder Drogen

Vom Verlauf des Friedensabkommens unter dem letzten Präsident Santos waren sie wie viele im Land enttäuscht. Mit den vielen Verlusten leitender Kräfte, weiteren Morden in der Umgebung, unter dem Druck der vielen Morddrohungen und dem Abzug aller internationalen Kräfte während der Corona-Zeit stehen viele Gemeinschaftsmitglieder seelisch unter einem enormen Druck. Wir sitzen z.B. mit Silvia, 57 Jahre alt, zusammen. Ihr Sohn war 22 Jahre alt, als er vor drei Jahren tot in seinem Bett in Apartadó aufgefunden wurde. Das Paramilitär wollte etwas von ihm, was er nicht wollte. So haben sie ihn kurzerhand erschossen. Das geschah genau in der Zeit, als Gildardo Tuberquia, einer der leitenden Kräfte der Gemeinschaft bei uns in Tamera war.

Jetzt rücken alle diese Ereignisse noch einmal ganz nah. Silvia selbst traut sich kaum noch vor die Tür. Mit solchen Beispielen könnte man Seiten füllen. Viele haben unter diesen Umständen die Hoffnung verloren. Andere sind durch die Widerstände eher gewachsen. Dazu gehört Dona Brigida Gonzales. Sie ist für viele Internationale, die mit der Friedensgemeinschaft verbunden sind, ein echter Pol geworden. Ihr Urgrossvater, drei Brüder, drei Kinder, vier Cousins, zwei Onkel, fünf Neffen – alle sind eines gewaltsamen Todes gestorben. Manche sind von Guerillas, andere vom Paramilitär oder auch vom Militär umgebracht worden. Brigida musste sich durcharbeiten durch viele traumatische Schichten. Inzwischen ist sie eine Orientierungsfigur für die ganze Gemeinschaft geworden. Hier einige Aufzeichnungen aus einem Gespräch mit ihr. 

Gustavo Petro hat viel Kraft, aber alleine kann er nichts erreichen.

Was hältst du von der neuen Regierung mit Gustavo Petro? Wir wissen, dass die Friedensgemeinschaft noch nie mit einer Regierung kooperiert hat. Ihr glaubt nicht daran, dass aus einem korrupten System die Veränderung kommen kann, nach der sich alle so sehnen. Und als Regierung ist man gewissermassen gezwungen, sich einem korrupten System anzupassen.

Brigida: Gustavo Petro hat viel Kraft, aber alleine kann er nichts erreichen. Es ist ein markanter Wechsel, der gerade läuft. Viele sagen, dass das Land seit über 60 Jahren im Krieg lebt. Aber es ist in Wirklichkeit viel länger. Seit Kolumbus den Kontinent betreten hat, ist hier eine Kriegskultur. 

Auf einer bestimmten Ebene schätzt sie Petro, weil er den Menschen klar sagt: Ihr kriegt den Frieden nicht geschenkt, ihr müsst etwas dafür tun! Gleichzeitig scheint sie es fast für unmöglich zu halten, unter den gegebenen Umständen die gewünschte Veränderung zu erreichen. 

Viele stellen sich quer, dazu die wachsende Armut in Zeiten der globalen Krise, und er hat nur vier Jahre Zeit. Was glaubst du, würde helfen?

Brigida: Es muss ein Wunder geschehen. Es müsste etwas geben, wo er den Menschen ermöglichen kann, dass sie auf ihrem Land arbeiten und bleiben können, unbehelligt, gesund und ohne die Natur zu zerstören.

Wie geht das Paramilitär, die gewalttätigste Kraft der Region, mit den Veränderungen um?

Brigida: Das Paramilitär hat seine Strategie verändert. Sie erpressen Schutzgelder und bieten andererseits jungen Menschen Geld an, die bei ihnen einsteigen.

Den steigenden Reichtum in Apartadó erklärt Brigida mit den Drogenbaronen, die letztlich auch zum Paramilitär gehören. Sie schildert die Situation von German, einem der Leiter der Gemeinschaft. Es wurde gerichtlich angeordnet, dass er öffentlich nichts aussagen darf über die 17. Brigade des Militärs, unter deren Anordnungen enorm viel Gewalt geschehen ist. Sonst kann er verhaftet werden. So hat die Gemeinschaft eine Pilgerschaft nach Apartadó organisiert. Alle Menschen trugen dabei Schilder, auf denen stand: «Ich bin German Graziano.» 

Es ist schön, ihren Humor und Freude bei dieser Erzählung zu sehen. Gleichzeitig schildert sie auch die schwierigen Situationen. Einige junge Menschen haben die Gemeinschaft verlassen sind übergewechselt zum Paramilitär. Das tut weh, denn viele Angehörige der Gemeinschaft wurden vom Paramilitär ermordet. Können sie zurückkommen, wenn sie eingesehen haben, dass es falsch war? Brigida schüttelt den Kopf: «Das ist schwer, weil das Vertrauen so tief zerstört wurde. Sie machen ja eine richtige Gehirnwäsche durch. Wir sind solidarisch mit allen. Aber es kann nicht jeder einfach hierher kommen, hier müssen wir uns darauf verlassen können, dass sich die Menschen an die Regeln halten.»

Das Geld, das die Regierung den Menschen als Entschädigung anbietet für das, was sie während des Krieges erlebt haben, fühlt sich die Gemeinschaft abgefertigt - als wären damit 60 Jahre Krieg, Tote und Ungerechtigkeit erledigt.

«Wir wollen, dass unsere Autonomie akzeptiert wird. Und dass unser Territorium akzeptiert wird. Wir verlangen nicht zu viel, wir wollen kein Geld, wir wollen unabhängig sein! Das Recht auf Freiheit wird aber von wenigen akzeptiert.» Dona Brigida bewegt nachdenklich ihren Kopf hin und her, lacht etwas auf und sagt: «Das Leben hat keinen Preis, wir sind nicht wie ein Stück Vieh, was man auszahlen kann.»

«Wir mussten im Laufe der Jahre lernen, was Solidarität und Gemeinschaft bedeutet. Das bildet sich nicht von alleine.»

Wir kommen auf den Mikrosozialismus zu sprechen, ein Begriff, der unter Präsident Santos benutzt wurde. Es war die Vorstellung, dass die Guerilla ihre Waffen niederlegt und sie sich zu kleinen Solidargemeinschaften zusammenschliessen.

Brigida: «Es geht um mehr als Mikrosozialismus. Wie können wir überhaupt zusammen leben, das ist eine grosse Frage. Wir mussten im Laufe der Jahre lernen, was Solidarität und Gemeinschaft bedeutet. Das bildet sich nicht von alleine. Das Leben ist unsere Schule. Wir gehen immer weiter. Geduld, Beharrlichkeit, Durchhaltekraft, Liebe zum Leben und zur Natur. Sie lehrt uns.»

Andrea und ich wollen das Gespräch verdauen, machen uns auf zu einem Spaziergang und begrüssen einzelne Menschen aus der Gemeinschaft. Regen Regen Regen. Ich verweile eine Weile an dem kleinen Steinkreis, den wir vor vielen Jahren hier gemeinsam errichtet haben. Zusammen mit den Mitgliedern haben wir die Aspekte herausgearbeitet, die ihnen von Bedeutung sind. Eduar Lanchero, der vor einigen Jahren verstorben ist, Mitbegründer und Visionär mit dem wir zusammen zwei Pilgerschaften durchgeführt haben, sagte bei einem Treffen in Tamera 2010:

«Die bewaffneten Gruppen sind nicht die einzigen, die töten. Es ist die Logik hinter dem ganzen System. Die Art und Weise, wie Menschen leben, erzeugt diese Art von Tod. Deshalb haben wir uns entschieden, so zu leben, dass unser Leben Leben erzeugt. Eine Grundbedingung, die uns am Leben hielt, war, das Spiel der Angst nicht zu spielen, das uns die Morde der Streitkräfte auferlegt hatten. Wir haben unsere Wahl getroffen. Wir haben das Leben gewählt. Das Leben korrigiert uns und leitet uns. »

Heute ist er nicht mehr unter den Lebenden, ein schwerer Verlust für die Gemeinschaft. Wir besuchen das Grab, das die Gemeinschaft für Eduar errichtet hat, und daneben die kleine Kapelle. Mit den gemeinsam entwickelten Bildern wurden die Kirchenfenster innerhalb der Kapelle gestaltet. Zusammen sitzen wir in der Kapelle, horchen auf den Regen und singen einige Lieder, die uns mit der Ewigkeitsschwingung in Verbindung bringen. Es ist, als wäre Eduar unter uns. Es hilft mir bei der seelischen Landung vor Ort, denn es ist nicht ganz leicht zu verdauen, was die Gemeinschaft in den letzten Jahren durchgemacht hat.

Global Grace Day: Im Friedensdorf San José, in Tamera und an einigen anderen Orten auf der Welt begeht man am 9. November den Global Grace Day – ein Tag des Friedens und der Versöhnung, initiiert von Sabine Lichtenfels. Hier erfährst du, wie du dich daran an deinem Ort beteiligen kannst: sabine-lichtenfels.com/index.php/2022/10/17/friedensaktions-und-meditationstag-am-9-november-2022/