In der Seitengasse des Weihnachtsmarktes
Der Mensch folgt dem Strom. Auch in der Weihnachtszeit. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Ein Weihnachtsmarkt wäre eigentlich etwas Wunderbares. An all den Ständen vorbeizuspazieren, zu schauen, zu kosten und zu vergleichen, vielleicht sogar etwas zu kaufen; diese eigentümliche, kunterbunte, vielfältig duftende, hin und her wogende Szenerie zu erleben, die noch immer im Grunde dieselbe ist wie zurzeit meiner Kindheit: Sie könnte mich jedes Mal wieder zum Flanieren und Verweilen verlocken.
Tatsächlich aber eile ich an den Standauslagen vorbei, ohne stehenzubleiben. Warum nehme ich mir nicht die Zeit, mich ein wenig verführen zu lassen von all den schönen und kreativen, nützlichen und weniger nützlichen Dingen, die mir hilfsbereite Verkäufer an ihren Ständen anbieten?
Meine ungebührliche Eile hat damit zu tun, dass ich bei all diesen vielen Produkten und Waren schon nach kürzester Zeit nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht. Von beiden Seiten, auf der ganzen Länge des Marktes, springt es mich an, ruft mich, lockt mich, will mich zum Degustieren, Probieren und Kaufen bewegen – und treibt mich bloss in die Flucht. Am Ende der Marktgassse angekommen, dem fröhlichen Rummel entronnen, erwerbe ich beim hintersten Stand 250 Gramm Magenbrot. Damit mein Gang durch die Budenstadt nicht völlig umsonst war.
Meine Unfähigkeit, das bunte Treiben zu schätzen und zu geniessen, hat jedoch einen zweiten Grund. Wenn ich an den Ständen vorbeigehe, interessieren mich weniger all die dargebotenen Dinge als vielmehr die Menschen hinter den Ständen. Die Marktfahrer. Ich versuche mir vorzustellen, wie ihnen zumute ist, wenn sie so viele Stunden am Tag jahrein, jahraus, bei Hitze und Kälte hinter ihren Produkten stehen und sie anpreisen müssen. Eine einfache Existenz, glaube ich, ist es nicht.
Bei manchen Ständen – besonders, wenn es um Essen und Trinken geht – muss ich mir keine Sorgen machen. Diese Standbesitzer haben Kundschaft genug. Einige kommen nicht nach mit Verkaufen, die Leute stehen Schlange und drängeln sich vor den Würsten, dem Glühwein, den Omeletten und Frühlingsrollen. Das Geschäft floriert. Andere Marktfahrer aber, die etwas Spezielleres anbieten – spezielle, handgefertigte Pantoffeln zum Beispiel, spezielle, verschiedenfarbige Kappen, spezielle gläserne Mobiles –, haben es nicht so leicht. Sie müssen um jede Kundschaft, die näherkommt, dankbar sein.
Wenn ihr Platz dazu noch im Schatten der grossen Marktstände steht, sind sie doppelt gestraft. Nur wenige Marktbesucher wählen den Weg in die Seitengassen. Und sobald die Besucher sehen, dass die Stände spärlicher werden, zieht es sie zurück in den Hauptstrom, wo unbeschwerte Geschäftigkeit herrscht, wo man jederzeit stehenbleiben, das Angebot prüfen und bei Desinteresse wieder im Strom der Passanten verschwinden kann. Die vielbeschäftigten Standbetreiber merken es gar nicht, weil schon der nächste mögliche Kunde vor ihnen steht.
Hin und wieder kommt es natürlich vor, dass sich Kundinnen oder Kunden auch für ein Angebot in den Seitengassen interessieren. Zuvorkommend freundlich, vor allem aber erwartungsvoll wendet sich ihnen der Marktfahrer zu, anerbietet ihnen Beratung und Hilfe oder lässt sie in Ruhe, wenn sie einfach nur schauen wollen. Seine Miene jedoch lässt erkennen, dass er die Enttäuschung schon verinnerlicht hat – damit sie ihn nicht mehr trifft, wenn sich die Kundin dann höflich bedankt und davongeht. Unzählige Male hat er diese Zurückweisung schon erlebt, und jedes Mal ist es wie Liebesentzug. Er hat sich dagegen schützen gelernt. Doch es verletzt ihn noch immer.
Weil ich das so viele Male beobachtet habe und weil auch ich so ein Kunde war, der sich am Ende, entschuldigend lächelnd, verabschiedete, kann ich das Leiden der Menschen hinter den kleinen, verschupften, weniger erfolgreichen Ständen nicht mehr mitansehen. Denn es ist ein Leiden. Es ist eine stille, unausgesprochene Frustration. Wie sie dastehen, hinter ihrem liebevoll gestalteten Sortiment, hinter Geschenkartikeln, die sie mit Sorgfalt und Können selber geschaffen, ausgewählt haben - wie sie da stehen und warten und hoffen, unentwegt Ausschau haltend nach Interessenten, mit zuversichtlicher Miene, um die Kundschaft nicht von vornherein abzuschrecken: Es tut mir weh in der Seele.
Möglicherweise leide ich mehr als sie selbst, weil ich ihnen nicht helfen kann. Ihre Schuhe, Käppchen und Mobiles brauche ich nicht. Irgendetwas könnte ich trotzdem kaufen und weiterverschenken. Aber das will ich nicht. Es geschähe aus Mitleid, und das würden die Marktfahrer spüren. Das wäre, als würde ich ihnen ein Almosen geben. Also eile ich an ihnen vorbei. mit einem freundlichen Lächeln zwar, aber so schnell, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommen, ich könnte interessiert sein.
***
Als Kind habe ich, wie viele andere Gleichaltrige, die «Turnachkinder» gelesen, ein über hundertjähriges Jugendbuch, das von der Zürcher Familie Turnach erzählt und was die Turnachkinder alles erleben. An einem Adventswochenende besuchen sie in der Stadt einen Weihnachtsmarkt, wo neben vielen weiteren Angeboten ein Lebkuchenmann seine selber gebackene Spezialität zu verkaufen versucht. Weil sein Stand jedoch eher abseits steht, findet der Lebkuchenbäcker mit seiner Ware keine Beachtung. Traurig blickt er zu den Besuchern hinüber, die sich ein Stück weiter vorn durch die Budenstadt schieben und von seinem Schicksal nichts ahnen. Das Kaufverhalten war schon damals dasselbe wie heute: Der Mensch folgt dem Strom. Die Seitengassen beachtet er nicht. Selbst vor Weihnachten nicht.
Doch der Mainstream rechnete nicht mit den Turnachkindern. Sie eilen nach Hause, basteln sich weisse Hüte, sodass sie wie Köche aussehen, kehren zurück an den Jahrmarkt, stellen sich neben den Lebkuchenstand und machen mit Glockengebimmel auf das köstlich duftende Angebot aufmerksam. Alsbald erscheinen die ersten Kunden, und schon nach kurzer Zeit sind die Lebkuchen ausverkauft.
Das Lebkuchenmännlein weiss nicht, wie ihm geschieht. Es strahlt vor Glückseligkeit – wir aber lernen daraus, selbst 100 Jahre danach, dass es Mittel und Wege gibt, das Kaufverhalten zu unterwandern. Man muss nur die Kinder fragen.
Ida Bindschedler war eine der «Turnachkinder»
- - - - -
«Songs & Geschichten zwischen den Jahren»
Ein Abend mit dem Schriftsteller & Erzähler Nicolas Lindt und der Bündner Folksängerin Julie Fox.
Donnerstag, 28. Dezember, 19 Uhr im Alten Schulhaus Segnas oberhalb Disentis
- - - - -
Weitere Texte aus dieser Serie:
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können