Wollen wir 10 Millionen?
Warum es Menschen gibt, die mit einer 10-Millionen-Schweiz leben könnten. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Ein Gespenst geht um. Das Gespenst heisst 10-Millionen-Schweiz. Durch das Land geht ein Raunen: Jetzt sind es schon 9 Millionen. Bald werden es 10 sein! Das Gespenst wird immer realer. Man redet von ihm wie von einer kommenden Realität, die niemand aufhalten kann. Denn Gedanken führen zu Worten, und Worte schaffen Materie.
Eine Partei hat ein Volksbegehren lanciert, um die Einwanderung zu stoppen, bevor die 10 Millionen erreicht sind. Aber sie steht mit ihrer Haltung allein. Alle anderen politischen Kräfte haben die 10-Millionen-Schweiz schon verinnerlicht. Sie beginnen sich auf sie einzustellen. Sie rechnen mit ihr. Sie finden sie gar nicht so schlimm. Sie freunden sich mit ihr an. Die Grünliberalen haben von der Regierung verlangt, eine «positive Vision einer 10 Millionen-Schweiz» zu entwickeln. Das Parlament nahm den Vorstoss entgegen. Der Tages-Anzeiger wählte den Titel: «Keine Angst vor einer 10 Millionen Schweiz». Und die sozialdemokratische Bundesrätin, die für die Migration zuständig ist, ging noch einen kühnen Schritt weiter: Sie erklärte, sogar vor einer 12-Mllionen-Schweiz habe sie keine Angst.
In allen politischen Lagern gibt es auch mahnende Stimmen. Sie finden 10 Millionen zu viel. Aber sie tun nichts dagegen. Ihre Besorgnis ist ein Bekenntnis, das nicht aus der Tiefe des Herzens kommt. Es ist ein Lippenbekenntnis. Wer so redet, aber nichts tut, hat sich im Grunde bereits entlarvt. Er lässt es geschehen, dass die Bevölkerung wächst und wächst, bis ihr schwindlig wird.
Was Überbevölkerung heisst, sehen und erleben wir heute schon: Überfüllte Strassen und Züge, überfüllte Spitäler, überfüllte Aufnahmezentren, überfülltes, zerstörtes Land, überforderte Lehrer, überlastete Ämter und Polizisten – und auf der anderen Seite Migranten, die, wenn sie weniger wären, willkommen wären. Aber es sind zu viele, und es kommen immer noch mehr. Warum genügt es nicht, dies alles zu sehen – und zu erkennen, dass schon 9 Millionen Menschen zu viel sind in einem Land, das so klein ist? Was sind das für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mit einer 10-Mllionen-Schweiz kein Problem haben?
Zunächst einmal sind es vor allem Intellektuelle. Die classe politique. Akademisch Gebildete, die das Leben der Menschen in unserem Land gar nicht kennen. Nicht wirklich. Gelegentlich stehen auch sie im Stau, gelegentlich betreten auch sie ein hoffnungslos überfülltes Wartezimmer, und plötzlich müssen auch sie damit leben, dass die Aussicht vor ihrem Fenster ohne Rücksicht verbaut wird. Doch sie haben das Geld und die Bildung, um sich ein Leben leisten zu können, in dem sie dem Dichtestress nicht im gleichen Mass ausgesetzt ist wie der Alltag des Volkes. Sie wohnen nicht in Quartieren und Mietkasernen, wo die Briefkästen fremde Namen tragen, sie rackern sich nicht im Niedriglohnsektor ab, und versichert sind sie mindestens halbprivat. Sie gönnen sich öfter mal etwas Besonderes, meiden Budgetprodukte und Billigtourismus, und wenn sie eine Wanderung in den Bergen machen, kommentieren sie nach ihrer Rückkehr: «Masseneinwanderung? Wir hatten die Bergwelt für uns allein.»
Natürlich können auch sie an den Folgen der Migration nicht völlig vorbeisehen. Aber sie spielen das Problem abschätzig lächelnd herunter und behaupten zum Beispiel, dass es schon früher Staus auf den Strassen gab. Sie schieben die Schuld auf die Autobenützer, die leider immer noch nicht die Bahn benützen. Oder sie begründen die Zunahme des Verkehrs mit dem gestiegenen Wohlstand - nur um nicht anerkennen zu müssen, dass immer mehr Menschen offensichtlich zu mehr Verkehr führen. Würden sie zugeben, dass die Masseneinwanderung ein Problem ist, dann müssten sie Schritte zu ihrer Eindämmung unterstützen. Dann müssten sie dazu bereit sein, die Personenfreizügigkeit zu kündigen und die Grenzen zu schliessen. Aber das wollen sie nicht. Denn es würde bedeuten, Menschen zurückzuweisen.
Wäre das nicht unmenschlich? Müssen wir nicht den Geflüchteten, die es schlechter haben als wir, jede mögliche Hilfe leisten? Auch wenn die Asylbehörden am Anschlag sind? Auch wenn die Folgekosten der Migration durch die Decke gehen? Viele Schweizerinnen und Schweizer sind nicht empfänglich für kritische Fragen. Sie wollen Mitgefühl zeigen. Denn sie haben ein schlechtes Gewissen, weil es uns noch immer so gut geht. Und damit das ärgerliche Gewissen ihnen die Freude am Wohlstand nicht nehmen kann, kaufen sie sich frei. Sie kaufen sich frei mit offenen Grenzen. Sie würden sogar eine 10-Millionen-Schweiz schlucken. Nur um vor der Welt und vor sich selbst als Gutmenschen dazustehen.
Eigentlich aber geht es den meisten, die für offene Grenzen sind – und deshalb eher links oder grün wählen –, nicht ums Gewissen. Im Grunde genommen haben sie Angst. Denn sie wollen den Wohlstand, den sie so selbstverständlich geniessen, um keinen Preis hergeben müssen. Und sie sind überzeugt, dass dieser Wohlstand nur garantiert werden kann, wenn immer noch mehr Menschen in unser Land kommen. Weil diese Menschen unsere AHV finanzieren, und weil die einen als dringend benötigte Fachkräfte kommen und die anderen für die Dreckarbeit. Auf dieses Versprechen schwören uns die Politiker und die Medien jeden Tag ein. Und ein grosser Teil jener, die am Wohlstand partizipieren, beten es nach: Wir brauchen immer mehr Ausländer. Sonst verarmen wir eines Tages.
Es ist der pure Egoismus, der mit Menschlichkeit nichts zu tun hat. Aber das Klammern ans irdische Glück hat seinen Preis. Wenn Menschen bereit sind, für eine vermeintlich gesicherte Existenz eine 10-Mllionen-Schweiz hinzunehmen, gehen sie einen Pakt mit dem Teufel ein. Denn sie geben dem Teufel dafür ein Stück Heimat. Sie opfern das Unversehrte, das Beschauliche und Besondere unseres Landes für die Verlockung des Mammons.
Warum tun sie das? Die Antwort ist so einfach wie traurig: Weil sie nicht an die Heimat glauben. Die Schweiz ist für sie kein Ort, den sie lieben. Sie wissen sie durchaus zu schätzen, weil sie doch so viel bietet – die Berge, die Seen, die intakte Natur, saubere Städte, sichere Strassen, sichere Jobs, gute Spitäler, moderne Kultur, alles vorhanden – und sie würden die Schweiz nie verlassen wollen, weil sie nirgendwo auf der Welt soviel Vorteile haben. Doch Liebe empfinden sie nicht. Und wer keine Liebe fühlt für sein Land, hat auch nicht das Bedürfnis, es zu bewahren. Er will es benützen, als wäre es ein Gebrauchsgegenstand. Hauptsache, die Schweiz funktioniert. Und wenn sie mit 9 Millionen Einwohnern funktioniert, warum soll sie nicht 10 Millionen verkraften?
Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann wird unser Land immer mehr verletzt, verraten, enteignet. Dann wird seine Kraft allmählich verlorengehen. Aber das sehen nur jene, die im Innersten daran glauben, dass ein Land eine Seele hat. Einen Geist. Dieser Geist der Eidgenossenschaft hat schon viele Generationen vorbeigehen sehen. Und alle vergangenen Generationen haben verstanden, dass sie die Schweiz zwar einerseits weiterentwickeln und modernisieren, ihr Wesen aber gleichzeitig pflegen und schützen müssen. Vor Gleichgültigkeit und vor Gier.
Deshalb gibt es dieses Land noch, was in Anbetracht der Weltgeschichte ein Wunder ist. Und es wird die Schweiz auch in Zukunft geben - wenn sie nicht quantitativ weiterwächst, sondern qualitativ. Jedes Land hat seine Grenzen, so wie jedes Haus seinen Gartenzaun hat. Und wie jedes Haus, so hat auch ein Land nicht unbegrenzt viele Zimmer.
Für alle, die die Schweiz lieben, ist die Grenze erreicht.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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