Die Blutspur
Die Wölfe kommen näher und näher. Und mit ihnen das wirkliche Leben – das unberechenbar und wild ist. Ich habe die Spuren der Wölfe verfolgt. Trotz Ungewissheit fühlte es sich befreiend an. Kolumne.
In meinem Refugium im Bündnerland zieht es mich morgens unwiderstehlich und bei jedem Wetter in die Natur hinaus. An jenem Morgen schien die Sonne, frischer Schnee war noch einmal gefallen, und ohne Stiefel wäre ich nicht weit gekommen. Ich wandte mich bergwärts dem Bach entlang, einer Fährte folgend, die einem Tier gehörte, das ich nicht gleich erkennen konnte. Hufabdrücke waren es nicht. Die Fährte wirkte seltsam verwischt, als wäre das Tier in grosser Hast unterwegs gewesen.
Etwas weiter oben bemerkte ich dann, dass zwei Schritte links von mir eine ähnliche Spur verlief. Ich entdeckte sogar eine dritte Spur, und sie alle folgten keiner geraden Linie. Sie näherten sich einander, sie kreuzten sich, verschwanden zwischen den Bäumen zur Linken und Rechten des Baches und kehrten zurück zur Hauptspur.
Dann sah ich trotz ihrer schlechten Erkennbarkeit, dass es Pfotenabdrücke waren – und da wurde mir klar: Ich befand mich auf den Spuren von Wölfen. Als ich dazwischen dann Hufabdrücke entdeckte, reimte ich mir zusammen, dass hier mehrere Wölfe ein Wild gejagt hatten. Die Bahnen im über Nacht gefallenen Schnee zeugten von einer wilden Treibjagd den Berg hinauf. Und an einer Stelle war der Schnee sogar etwas rötlich gefärbt, als habe einer der Wölfe die Beute erwischt, jedoch wieder loslassen müssen.
Die wirr verlaufenden Spuren liessen mich vage erahnen, welche Todesangst die gehetzte, verzweifelte Kreatur gehabt haben musste – bevor es ihr offensichtlich gelungen war, weiter oben am Steilhang in den Schutz des Waldes zu flüchten. Doch entkommen war das Tier deshalb nicht. Seine Jäger folgten ihm in die Bäume hinein, wo die Spuren verschwanden und sie den Menschen im Ungewissen darüber liessen, wie das grausame nächtliche Halali für das Opfer und seine Verfolger geendet hatte.
Ich aber sah die Spuren der Wölfe vor meinen Füssen und war ihnen näher denn je gekommen. Schon am nächsten Morgen konnte es soweit sein, dass ich Auge in Auge vor ihnen stand. Meine einheimischen Nachbarn hatten die Tiere schon mehrere Male in Sichtdistanz beobachten können. Und sie hatten mir erzählt, dass die Wölfe, als sie den Menschen erblickten, nicht gleich die Flucht ergriffen. Sie hätten sich dem Menschen zugedreht, ihn gewittert und dann ihre Wanderung ohne Hast, ungerührt fortgesetzt.
Die Wölfe kommen näher und näher. Allein im Bündnerland sind es schon fünfzig. Gelegentlich wird man wohl den einen oder anderen abschiessen müssen, der zu frech wird, weil er gemerkt hat, dass Schafe auf einer Weide leichter zu holen sind als das Wild, das flüchten kann. Und gelegentlich wird wohl wieder ein junger unerfahrener Wolf auf einer Strasse oder neben dem Bahngleis liegen, zu Tode gefahren. Aber sie werden sich weiter vermehren, die Rudel der Wölfe, und man wird damit leben lernen müssen, ihnen draussen in der Natur jederzeit begegnen zu können.
Die Wildhut hat sie im Auge, sie werden gezählt und erfasst, ihre Reviere vermessen, ihre Streifzüge digital festgehalten, ihre Markierungen untersucht – doch bei aller Fürsorge und Kontrolle durch die menschliche Obrigkeit bleibt ein Restrisiko. Ein Rest an Unberechenbarkeit. Mitten in unserer durchgeimpften, abgesicherten Existenz, mitten in unserer kartografierten, systematisierten, ökologisch gechipten, gezähmten Natur schleichen bei Nacht und Nebel Wölfe umher, jagen ein schwaches hilfloses Reh bis zur Erschöpfung, reissen es auseinander – ohne jede Nachhaltigkeit – und fressen es auf.
Ihre Blutspur an diesem Morgen, ihre ungesetzliche Hetzjagd im frischen Schnee, ihre Erbarmungslosigkeit, ihre Mordlust, ihr Blutrausch: Es war ein archaisches Bild, das sich mir bot, ein befreiendes, tausendmal stärkeres, wärmeres und unbesiegbareres Bild als die klinische, angstmachende Fratze der Gegenwart. Diese Spuren im Schnee zu sehen, war ein Geschenk des Himmels. Es war der nie endende Ruf der Wildnis.
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Wölfe
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