Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Screenshot SRF / by Nicolas Lindt

Wie würdest du reagieren, wenn du plötzlich dein Haus oder deine Wohnung verlassen müsstest, weil ein Bergsturz droht? Was würdest du mitnehmen, wenn keine Zeit mehr bliebe, um lange zu überlegen? Du würdest als erstes wahrscheinlich den PC, den Laptop einpacken, dann vielleicht ein paar Fotoalben, die Toilettensachen und die Kleider, die du am ehesten brauchst. Aber dann müsstest du bereits gehen – ohne Garantie auf Rückkehr.

Was alles müsste aber eine Bauernfamilie erst zurücklassen? So erging es vor bald vier Wochen den Bauern aus der Gemeinde Brienz im Bündnerland. Wie die Medien berichteten, mussten am 12. Mai alle rund 100 Bewohner des Dorfes evakuiert und an neue Orte gebracht werden, weil sich der Berg oberhalb des Dorfes plötzlich regte und immer mehr Brocken zu Tale stürzten, weshalb für die unterhalb gelegenen Häuser akute Bergsturzgefahr drohte. Die Evakuierung musste deshalb sehr schnell gehen. Die Tiere wurden verladen und die Menschen aus Brienz auf Wohnungen und Ferienhäuser in der Umgebung verteilt.

Eine dieser Familien ist die Bauernfamilie Liesch mit ihren drei Kindern. Eine Kindersendung des Schweizer Fernsehens wollte zeigen, wie sich die Kinder auf die neue Situation einstellen. Die Jüngeren haben ein paar Spielsachen mitgenommen, der schon etwas Ältere seinen Nintendo. Die Spielkonsole war ihm das Wichtigste – aber so ist die heutige Zeit. Immerhin durfte auch die Katze mit ins Exil kommen, aber das ganze Vieh hatte keinen Platz in der Ferienwohnung, es musste anderswo einquartiert werden.

Nun sitzt die fünfköpfige Familie seit vielen langen Tagen in der schönen, aber auch engen Wohnung und muss einfach warten. Die Kinder können immerhin die Schule besuchen am neuen Ort, aber die Erwachsenen müssen Däumchen drehen – was für Bauern, die sich an Arbeit gewöhnt sind, nicht leicht ist. Ein einziges Mal in der ganzen Zeit durften sich die Brienzer für kurze Zeit in ihr Dorf begeben, aber nur, um Sachen zu holen, die sie dringend benötigten. Weitere versprochene Dorfgänge wurden jedes Mal im letzten Moment wieder abgesagt, weil es die Bergsturzgefahr nicht erlaube.

Schon gar nicht bewilligt wurde das Erledigen dringender Arbeiten. Dabei hätten doch die Bauern in ihrem Dorf schon lange das Gras schneiden und hundert andere Dinge tun müssen, in den Häusern, im Stall, in den Gärten. Stattdessen – um wieder auf die Familie Liesch zurückzukommen – müssen Gian und Marcellina Liesch sich selbst und die Kinder bei Laune halten, und abends müssen sie bestimmt Formulare ausfüllen, damit sie dann die nötigen Entschädigungen erhalten für den von Woche zu Woche wachsenden Einkommensausfall.

Nur zurück dürfen sie nicht, denn immer wieder lösen sich Felsbrocken vom Berg und poltern ins Tal. Ich würde nicht sagen, sie «donnern» ins Tal. Auf den Videos vom Bergsturzgebiet ist kein Donnern zu hören, nur ein Rollen und Poltern, aber die Medien ziehen ein «Donnern» vor, weil es dramatischer tönt.

Alle diese Felsbrocken, das muss hinzugefügt werden, kommen zum Stillstand in der vor den ersten Häusern gelegenen Senke. Es müsste schon der ganze Berg herunterkommen, damit das Dorf selbst betroffen wäre. Man erfährt auch, dass der Hang, auf dem das Dorf liegt, sich im Rutschen befindet, damit wird die Bewegung des Berges erklärt. Er rutscht offenbar seit Jahrtausenden, aber in jüngerer Zeit immer nur wenige Zentimeter pro Jahr. Das habe sich nun geändert. Neuerdings bewege sich der Hang mit dem Dorf einen ganzen Meter im Jahr Richtung Tal.

Diese letzte, vom Schweizer Fernsehen genannte Zahl, denke ich, sollte man mit Vorsicht geniessen. Ich würde gern genauer wissen, aus welcher Quelle dieser jährliche Meter stammt und wie er berechnet wurde. Und es könnte doch ebenso sein, dass die Beschleunigung sich wieder beruhigt. Ich wohnte einmal im Glarnerland, in Braunwald, und auch dort hat es immer geheissen, das am steilen Hang gelegene Dorf rutsche pro Jahr 3 cm ins Tal hinab. Seither sind Jahrzehnte vergangen und Braunwald ist noch immer nicht unten angekommen. Es geniesst seine Aussichtslage da oben auch weiterhin.

Aber das Schweizer Fernsehen benützt dieses Rutschen des Hangs, um als mögliche Ursache – was wohl, so kurz vor der Abstimmung? – den Klimawandel zu nennen. Obwohl dies vom zuständigen Experten bestritten wird. Der emeritierte ETH-Professor und Berater der Bündner Regierung, Simon Löw, erklärte wörtlich und ebenfalls im Schweizer Fernsehen: «Die Instabilität des Hanges hat nichts mit dem Klimawandel zu tun.»

Der Experte erwähnt dann auch die Szenarien, auf die man sich einstellen muss. Möglich, sagte er, wäre eine Art Fliessen des ganzen Hanges als ein Prozess, der keinen Bergsturz hervorrufen würde. Ebenso denkbar wäre, dass weiterhin kleinere und grössere Stücke herunterkommen, aber nicht alles aufs Mal. Und dann sagt der Professor wörtlich: «Nur im extremsten, eher unwahrscheinlichen Fall könnte es einen Bergsturz geben.» 

Diesen Satz müsste man eigentlich, fett gedruckt, als Überschrift über das Ganze setzen. Denn worauf stützt sich dieser extremste Fall? Er beruht nur auf Hypothesen. Trotzdem werden die Brienzer weiterhin in Ungewissheit gehalten. Die Lieschs jedenfalls glauben nicht mehr daran, dass sich bald etwas ändern wird. Sie müssen tun, was ihnen gesagt wird, und sich mit ihrer unglücklichen Lage abfinden.

Aber das wollen sie eigentlich nicht. Sie wollen zurück in ihr Dorf – nicht nur für eine Stunde, um ein paar Sachen zu holen, sondern mindestens für die Zeit, die sie brauchen, um das Gras zu schneiden und in Hof und Stall zum Rechten zu sehen. Und ich denke, sie würden sogar noch weitergehen wollen. Gian Liesch, der Bauer, sagte dem Schweizer Fernsehen: «Ich würde auch jetzt noch mit gutem Gewissen und ohne Angst bei uns in Brienz schlafen.» Ihr Hof liege sowieso im unteren Teil des Dorfes.

Viele andere Brienzer würden vermutlich dasselbe sagen. Die Einheimischen sind zwar keine ETH-Professoren und auch keine Regierungsbeamte, aber sie leben mit ihrem Berg, und schon ihre Vorfahren haben mit ihm gelebt, sie haben ein Gespür für die Natur. Warum überlässt man den Entscheid eigentlich nicht ihnen? Warum glaubt der Staat, er habe das Recht, sie vor ihrem eigenen Dorf, vor ihrem eigenen Haus zu schützen?

Geht es ums Geld? Geht es darum, dass die Krankenkassen oder die Lebensversicherungen zahlen müssten, wenn die Brienzer vom Bergsturz betroffen würden? Geht es um die Vermeidung eines unnötigen Risikos? Dann müsste man auch Menschen mit Gewichtsproblemen verbieten, zu viel zu essen. Dann müsste man Rauchern verbieten, zu rauchen, und jungen Motorradfahrern das Töfffahren untersagen. Warum also dürfen nicht auch die Brienzer ein Risiko eingehen?

Es geht jedes Mal um dasselbe: Dass man den Menschen die Eigenverantwortung nimmt, Stück für Stück, immer mehr – und die Brienzer  gehorchen. Sie gehorchen auch deshalb, weil sie vom Staat entschädigt werden. Das ist so in der Schweiz, man muss eigentlich nie um seine Existenz bangen, der Staat kommt immer zu Hilfe. Aber was nützt eine Entschädigung, wenn man Heimweh hat und eigentlich nur noch zurück will, zurück ins eigene Haus, in die eigene, vertraute Umgebung. Wäre ich der Dorfälteste von Brienz, ich würde eine Versammlung einberufen mit allen Einwohnern. Damit die Brienzer an dieser Versammlung selber zu Wort kommen und damit sie entscheiden könnten, was sie selber wollen. Denn das Dorf Brienz gehört ihnen und niemandem sonst.


Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Täglich von Montag bis Freitag - Zu hören auf Facebook, Telegram, Spotify, iTunes und Audible oder auf der Website des Autors www.nicolaslindt.ch