Die Schwester der Kranken
Manche Begriffe, die uns der Zeitgeist diktiert hat, waren von Anfang ein Konstrukt. Doch die herrschende Ordnung hält daran fest. Gegen unser gesundes Empfinden. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt.
Als ich eine Frau mittleren Alters, mit der ich mich unterhalte, nach ihrem Beruf frage, antwortet sie mir, sie arbeite in der Pflege. Im Spital.
«Als Krankenschwester?» frage ich nach.
«Als Pflegefachfrau, genau», erwidert die Frau, die Diana heisst. Und mit einem Lächeln, das fast entschuldigend wirkt, fügt sie hinzu: «Also ja – als Krankenschwester.»
Wir schauen uns verständnisvoll an, als wollten wir beide sagen: Krankenschwester tönt schöner. Aber das war einmal. Heute sagt man das nicht mehr.
Man sagt heute vieles nicht mehr. Die Welt bleibt nicht stehen, sie verändert sich und mit ihr die Sprache. Aber die «Krankenschwester» hat sich nicht von selber verändert. Sie wurde abgeschafft. Und die «Pflegefachfrau» ist nicht von selbst entstanden. Sie wurde beschlossen. Eine diplomierte Krankenschwester ist heute eine Pflegefachfrau.
Sage ich immer noch Krankenschwester, dann bedeutet dies, dass ich die «Pflegefachfrau» und ihr neues Berufsbild nicht anerkenne. Ich diskriminiere sie. Als würde ich eine «Executive Assistant» immer noch Sekretärin nennen.
Offiziell existiert die «Krankenschwester» nicht mehr. Aber ich habe sie nach wie vor lieber. Sie ist für mich nicht die Ordensschwester, die sie einst war. Sie ist die Schwester der Kranken, und würde ich selber im Krankenhaus liegen, wäre sie auch für mich eine Schwester. Von einer «Pflegefachfrau» – und ich meine damit das Wort, nicht den Menschen dahinter – möchte ich nicht gesundgepflegt werden. Eine «Pflegefachfrau» mag es nicht, dass ich «Schwester» sage, weil sie nicht meine Schwester ist. Eine «Pflegefachfrau» bleibt immer sachlich. Sie schenkt den Kranken ein Lächeln, weil sie in ihrem Masterstudium gelernt hat, dass ein Lächeln der Heilung förderlich ist. Sie plaudert mit den Patienten, weil sie gelernt hat, dass Patienten emotionale Zuwendung brauchen. Sie ist für ihre Patienten – hauptsächlich für die männlichen – keine Frau. Sie ist eine Fachfrau. Sie überschreitet nie ihre Kompetenzen. Sie vermeidet jede Berührung, die möglicherweise nur tröstend gemeint ist.
Eine Pflegefachfrau handelt immer korrekt.
Eine Krankenschwester macht Fehler. Eine Pflegefachfrau macht Fehler nur dann, wenn die Fehler intern untersucht und bewiesen sind. Eine Krankenschwester ist bloss ein Mensch. Eine Pflegefachfrau ist eine Expertin.
Auch Diana hat ihren Master gemacht. Auch sie darf den Titel tragen, den ihr der Zeitgeist verliehen hat. Und als nächstes, vielleicht schon bald, bietet ihr die Krankenhausdirektion die «Bereichsleitung Pflege» an. Und eines Tages sogar die «Pflegedienstleitung», abgekürzt PDL. Doch Diana, die keine Abkürzung ist, fühlt sich noch immer als Krankenschwester.
«Fachfrau» - das tönt so klug. Und so kalt. Das Fach, das eine «Pflegefachfrau» bewohnt, ist ungeheizt. Da, wo die Krankenschwester wohnt, brennt ein wärmendes Feuer.
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