Die Tante-Emma-Oase
In der Matte unterhalb der Berner Altstadt führt Aram Melikjan seit 15 Jahren den letzten Quartierladen. Und setzt damit ein Zeichen für Zusammenhalt und Menschlichkeit.
Im September 2013 erlangte der Quartierladen des Berner Matte-Quartiers für kurze Zeit Weltberühmtheit. Der US-Journalist und dreifache Pulitzerpreisträger Thomas L. Friedman war für eine Konferenz in Bern und entdeckte bei einem Spaziergang an der Aare zufällig das «Matte-Lädeli». Er ging hinein, um ein paar Nektarinen zu kaufen. Während er an einem Einstieg für seine Kolumne zum Syrien-Konflikt hirnte, riss ihn der Verkäufer aus seinen Gedanken: Er hatte grell-pinkes Haar und warf einem Passanten durch das Schaufenster unbekümmert einen Handkuss zu. Friedman war verblüfft. Putin, Assad, Obama und die Probleme des Nahen Ostens waren auf einmal weit weg. «Hier ist die Welt noch in Ordnung», schlussfolgerte er schliesslich in der Kolumne für die New York Times, in der er diese Begegnung aufgriff. «Zu viele Sorgen führen zu grauen Haaren, oder gar keinen», so Friedman. «Aber sicher nicht zu pinken Haaren.»
Tatsächlich ist ein Besuch im «Matte-Lädeli» immer auch ein Besuch in einer ganz eigenen Welt. Die Produkte stehen dicht gedrängt und mittags kann es vorkommen, dass man sich fast auf die Füsse tritt. Neben einer grossen Auswahl an Lebensmitteln sind auch Kosmetik- und Büroartikel im Angebot. Darunter findet sich konventionelle UHT-Milch wie Bio-Mandelmilch, Ariel-Waschmittel wie die Öko-Marke Held und Fairtrade-Café wie Nescafé-Pulver. An einer Holzwand werden Kurse- oder Wohnungen feilgeboten, ein Fahrrad kann gegen eine Spende geliehen werden und an der Theke gibt es Zigaretten einzeln zu kaufen. Wer nicht genügend Geld dabei hat, lässt anschreiben, so kann sich der Besitzer Aram Melikjan die Namen seiner Kunden ohnehin besser merken.
«Hier soll alles Platz haben und nebeneinander existieren können», sagt Aram, von dem fast alle nur den Vornamen kennen. «Ich will kein elitärer Öko-Laden sein, sondern allen Quartierbewohnern etwas anbieten.» Ein Pfund Ruchbrot und ein Stück Käse sind daher bereits ab 5 Franken zu haben. Nur das Fleisch gibt es ausschliesslich in Bio-Qualität, und den Nescafé wolle er nun doch aus dem Sortiment nehmen.
Als der Laden 1981 gegründet wurde, galt er als der zweite Bio-Laden der Stadt Bern. Damals arbeitete Aram, Sohn eines Künstlers und einer Germanistin, noch als Landwirt im Kanton Jura. Die Sehnsucht nach Autonomie und Verbundenheit haben ihn zu dieser Berufswahl getrieben. Doch die harte Arbeit war irgendwann nicht mehr mit seiner Familie vereinbar und er beschloss, wieder in die Stadt Bern zurückzukehren. Die damalige Besitzerin des «Matte-Lädelis» war eine Bekannte von Aram und übergab ihm schliesslich 2002 ihr Amt.
Längst ist der Laden, der im traditionellen Matte-Dialekt «Ittume Idele» heisst, mehr als nur ein Gewerbe. «Ich sehe ihn als Gemeinschaft zwischen den Quartierbewohnern und den Mitarbeitern», sagt Aram, der sich seit 18 Jahren auch als Vorstand des Matte-Leistes fürs Quartier engagiert. Gemeinschaft, das bedeute für ihn, mit dem Nachbarn aufs Dach zu steigen, wenn Wasser eindringt. «Der Laden ist für mich der Ort, an dem ich meine Werte von Zusammenhalt und Menschlichkeit am besten leben kann.» So fällt er auch immer wieder mit Aktionen auf, die über den Verkauf hinausgehen. Zum Beispiel gibt es im Winter selbst gekochte Suppe gegen einen selbst gewählten Beitrag und im Sommer lockt das Freibier-Fest auch Menschen ausserhalb des Quartiers auf den lauschigen Vorplatz. Bereits zweimal musste Aram den Laden aus dem Wasser ziehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Hochwasser von 1999 und 2005, die das Quartier überschwemmten, hinterliessen jeweils einen Totalschaden. Jedes mal hat er sich wieder aufgerappelt, und heute führt er den letzten verbliebenen Laden des geschichtsträchtigen Quartiers.
Dass er sich noch immer hält, liege auch an der abgegrenzten Lage zum Rest der Stadt, vermutet Aram. Das Quartier ist für ihn ein Vorbild für Strukturen, die man heute andernorts künstlich zu erzeugen versuche: Es hat eine Post, eine Kita, eine Schule, Friseure, Restaurants, den Laden, die Aare. Und das alles quasi in Pantoffeldistanz. Ein städtisches und trotzdem gemeinschaftliches Quartier. Da der Mensch ohnehin nur eine begrenzte Anzahl von Zusammenhängen verstehen könne, fühlen sich die Bewohner hier unten wohl, so Arams Theorie. «Im Quartier können wir die Geschehnisse noch begreifen.» So bestätigt er auch die Wahrnehmung des US-Journalisten Friedman, dass die Welt hier unten vielleicht noch ein Stück heiler ist. Aram ist überzeugt: «Wären alle Menschen so wie meine Kunden, wäre die Welt eine bessere.»
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