Die Wanzen haben es mir gezeigt
Ihre Bilder von verstümmelten Insekten haben die Wahrnehmung für die Gefahren der Atomkraft verändert. Sie hat jahrzehntelang geforscht und nachgehakt. Jetzt hat Cornelia Hesse-Honegger den «Nuclear-Free Future Award» erhalten und ein Buch geschrieben. Es ist die Geschichte von einer, die auszog, der Atomlobby das Fürchten zu lehren – mit den subtilen Waffen der Kunst.
Zeitpunkt: Frau Hesse, Ihre Illustrationen von verstümmelten Wanzen haben Menschen auf der ganzen Welt die Augen für die Macht der schwachen radioaktiven Strahlung geöffnet. Wie sind Sie überhaupt wissenschaftliche Zeichnerin geworden?
Cornelia Hesse-Honegger: Ich zeichnete schon als Kind sehr gerne. Eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen wie mein vor kurzem verstorbener Vater, das kam für mich aber nie in Frage. Bei uns verkehrten viele berühmte Künstler wie Rothko, Sam Francis und Stockhausen. Ich hatte eher die Mentalität einer Büezerfamilie und musste auch meinen Lebensunterhalt verdienen. Als Künstlerin, das wusste ich, würde das schwierig sein.
Und da geht man einem handfesten Beruf nach.
Gewissermassen. Es war aber dann doch mein Vater, der mir eine Ausbildung zur wissenschaftlichen Zeichnerin empfohlen und 1961 auch eine Lehrstelle bei Prof. Burla am zoologischen Institut der Universität Zürich organisiert hat. Eine reglementierte Ausbildung gab es zwar nicht, und er blieb bis zum Ende meiner Lehrzeit – ohne eigentlichen Abschluss – mein zweiter Lehrmeister. Er brachte mir auch verschiedene Techniken bei und hat meine Arbeit sehr gefördert.
Die bildgebenden Verfahren, die es damals noch nicht gab, sind heute ein wichtiges Element der naturwissenschaftlichen Forschung. Wann haben Sie zum ersten Mal entdeckt, dass die Illustration ein eigenständiger Erkenntnisweg ist?
Das war mit 17 Jahren in meinem ersten Lehrjahr. Ich musste für eine Dissertation Chromosomen nach einer Beschreibung zeichnen, und es wollte einfach nicht aufgehen. Es zeigte sich dann, dass etwas am Konzept nicht stimmte, und der Doktorand musste nachbessern.
Da konnten Sie erstmals punkten.
Ein bisschen, ja. Aber die Professoren mochten meine Zeichnungen nie. Sie bevorzugen Fotos, in denen gewisse Bereiche unscharf sein dürfen und die Interpretation frei lassen.
Das bedeutet aber auch, dass Sie als Illustratorin diese Interpretation vornehmen und nicht der Wissenschaftler.
Nein, sie machten jeweils präzise Vorgaben. Sie interpretierten eigentlich mehr als ich und ich wehrte mich manchmal dagegen. Die Illustration ist eher ein didaktisches als ein wissenschaftliches Instrument. Man kann Dinge hervorheben, anderes zurücknehmen oder sogar ganz weglassen. Es ist eine gleichzeitig subjektive und objektive Entscheidung. Dafür können alle, egal welcher Sprache, eine Illustration lesen. Und eine Illustration kann die wissenschaftliche Fantasie beflügeln. Denn die wissenschaftlichen Fragen, mit denen wir uns beschäftigen, werden von der Fantasie genährt. Jede Hypothese, die wir prüfen, entsteht zuerst in der Fantasie.
Was war Ihre erste Begegnung mit mutierten Lebewesen, die letztlich einen grossen Teil Ihres Lebens geprägt haben?
1967 zeichnete ich mutierte Fliegen, deren Eltern vorher im Laborversuch vergiftet worden waren. Ich musste zuerst lernen, missgebildete Fliegen zu lesen. Die Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit missgebildet, einzelne Teile hatten eine komplett andere Form, sodass man sie nur schwer identifizieren konnte. Das hat mich sehr beeindruckt und mir die Augen dafür geöffnet, wie tief die Eingriffe in die Natur gehen können. Die Zeichnungen der mutierten Fliegen erschienen auch in der Kulturzeitschrift «Du».
Und wie sind Sie auf die Wanzen gestossen?
Eigentlich durch Zufall. Bei meinen Streifzügen durch die Natur entdeckte ich, dass ihre Vielfalt viel grösser ist als in den Bestimmungsbüchern angegeben. Man sammelt Schmetterlinge, aber keine Wanzen. Dabei sind sie mindestens so schön und für die Darstellung der Wirkungen der radioaktiven Strahlung viel besser geeignet.
Wie kam es dazu?
1985 malte ich im Rahmen einer Forschungsarbeit Fliegen, deren Eltern im Labor nicht mehr vergiftet, sondern bestrahlt worden waren. Was ich sah, hat mir echte Angst eingejagt. Die Wissenschaft und die Atomwirtschaft waren daran, neue Naturformen zu kreieren und in die Welt zu setzen, ein unkontrollierter Versuch mit unbekanntem Ausgang. Diese Arbeit hat meine Sinne geschärft. Aber ich wäre noch nicht auf die Idee gekommen, verstümmelte Insekten in der Umgebung von Atomkraftwerken zu vermuten. Dazu braucht es ein heftiges Ereignis.
Und das ist mit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 auch eingetreten. Wie haben Sie davon erfahren?
Ein Freund vom Institut für Atomwirtschaft an der ETH Zürich informierte mich schon am Tag nach dem Vorfall. In die Medien gelangte die Information erst ein paar Tage später. Für mich war klar: Jetzt kommt meine Zeit.
Aber Sie sind erst später nach Schweden gereist.
Veränderungen an der Gensubstanz manifestieren sich erst in den folgenden Generationen. Es wäre sinnlos gewesen, sofort Wanzen zu sammeln, die mit dem radioaktiven Fallout in Kontakt gekommen waren. So fuhr ich 1987 nach Schweden. Ich hattee den Ort zufällig gewählt, bin aber im höchstverstrahlten Gebiet gelandet, in der Umgebung von Österfärnebo. Zuerst habe ich mich bei Biologen von schwedischen Universitäten erkundigt, ob Studien mit Insekten geplant oder schon im Gang seien. Die mehr oder weniger einheitliche Antwort war, das sei nicht nötig, die Strahlung sei zu niedrig, um Insekten zu schädigen.
Wie ging es weiter?
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich missgebildete Wanzen unter meinem Mikroskop und war sehr erschüttert. Ich malte sie vor Ort. Die Veröffentlichung der Bilder im Magazin des Tages-Anzeigers löste eine monatelange Kontroverse aus. Ich habe dann auch im Tessin gesammelt, einem weiteren Gebiet mit starkem Fallout, und in der Umgebung von Atomkraftwerken. Das Resultat war für mich eindeutig: Auch schwache Strahlung schädigt die Organismen.
Ihre Kritiker sagten, die Auswahl der Tiere entspreche nicht wissenschaftlichen Kriterien. Ein gewisses Mass an Genmutationen mit verstümmelnder Wirkung sei normal und man müsse genaue Zählungen in der Umgebung von AKWs machen und die Ergebnisse mit unversehrten Biotopen vergleichen. Was sagen Sie dazu?
Meine Feldstudien blieben bis ins Jahr 2012 einzigartig. Erst nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi haben japanische Wissenschaftler, angeregt durch meine Arbeit, mit Feldstudien begonnen, die auch zeigten, dass in diesem Fall Schmetterlinge und Blattläuse durch den Fallout des Atomunglücks schwer geschädigt wurden. Mit anderen Worten, die Wissenschaftler kritisierten mich 1988 und 1989 für etwas, das sie mit keiner eigenen Arbeit widerlegen konnten, denn sie hatten nach Tschernobyl nicht geforscht. Sie meinten, dass die Strahlendosen aus Tschernobyl zu gering seien, und sie gingen von einer äusserlichen Bestrahlung durch Röntgenstrahlung aus. Mein Argument aber ist, dass der radioaktive Cocktail selbst aus unseren normal funktionierenden Atomkraftwerken eine andere Wirkung hat als Röntgenstrahlen. Das heisst, die künstliche Strahlung aus unseren Atomanlagen ist hochgefährlich.
Nach fast 30-jähriger Forschungsarbeit und 17'000 gesammelten Wanzen und anderen Insekten kann ich belegen, dass die Schädigungsraten um ein Vielfaches höher sind, als allgemein angenommen wird.
Nachdem ich meine Arbeiten publiziert hatte, überraschte mich die Gehässigkeit, mit der man sie kritisierte. nahm viele der kritischen Punkte auf. Einer der kritisierten Punkte war, dass ich keine Kontrollgebiete aufweisen könne. Ich gehe allerdings davon aus, dass wir heute auf unserem Planeten keine unbelasteten Kontrollgebiete mehr haben, weil wir nicht wissen, wo sich der Fallout der Atombomben und Atomkatastrophen niedergelassen hat. Das heisst, meine Arbeit ist immer eine Bestandesaufnahme. Mein Messapparat ist die Natur, die mir darüber Auskunft gibt, wie es ihr geht. Wichtig war mir, vor allem bei uns in Europa und in der Schweiz zu forschen. Denn hier, so glauben wir, ist ja alles in Ordnung. Aber dem ist nicht so. Die Tiere haben es mir gezeigt.
Sie sind dann um die halbe Welt gereist, von Tschernobyl über Three Mile Island bis in die Atomtestgebiete von Nevada, und haben die Umgebung von Atomanlagen untersucht. Wie haben Sie das finanziert?
Ich hatte das Glück, für den Zürcher Seidenfabrikanten Fabric Frontline Dessins für Couture-Seide, Schals und Krawatten gestalten zu können. Sie waren sehr erfolgreich und wurden auf der ganzen Welt verkauft. Ausserdem unterrichtete ich an verschiedenen Schulen und Universitäten. Dies erlaubte mir eine vollkommene Unabhängigkeit, nicht nur finanziell, sondern auch gedanklich und in der Wahl meiner Forschungsthemen. Sonst hätte ich diese Arbeit gar nicht machen können.
Wie muss man sich das vorstellen: Da fliegt Cornelia Hesse zu den atomaren Hotspots dieser Welt und stöbert mit ihrer Insektenbüchse durch die Umgebung?
Ja, so war es in etwa. Manchmal dachte ich schon, ich würde mich im Niemandsland verlieren und alles sei sinnlos. Die Anlagen sind ja teilweise sehr abgelegen und man ist allein. Einmal telefonierte ich in Tränen aufgelöst aus einer Wüste mit meiner Schwester. Aber sie bestärkte mich in meinem Weg, wie viele Freunde auch.
Es gab auch Ausstellungen mit Ihren Werken.
Ja, ich wurde in viele Länder für Vorträge und Ausstellungen eingeladen, aber nur selten in der Schweiz. 1992 durfte ich die Schweiz an der XVIII. Triennale in Mailand vertreten. Diese Ausstellung wanderte in Europa und Kanada bis 1999 und wurde sogar an einigen Orten in der Schweiz gezeigt (Uster, Schaffhausen, Lausanne, Genf und Pruntrut). Das Bundesamt für Kultur stellte ein sehr schönes, viersprachiges Buch her, genannt «Nach Tschernobyl».
Enttäuscht?
Enttäuschung gehört zum Lernprozess. Wenn man eine Wahrnehmung für ein Problem gewinnt, das niemand sieht, dann denkt man zuerst, man sei möglicherweise verrückt. Mit der weiteren Arbeit wird die Erkenntnis klarer. Und dann ist man natürlich enttäuscht, wenn sie nicht geteilt wird. Insbesondere meine Generation, die 68-er, hat mich schon enttäuscht; auch die Frauenbewegung. Wenn wir mehr zu unseren Überzeugungen gestanden wären, wäre die Schweiz heute atomfrei.
Im letzten Herbst haben Sie im Senat in Washington den Nuclear-Free Future Award erhalten.
Ja, das war eine sehr grosse Genugtuung und eine schöne Anerkennung für die jahrzehntelange Arbeit.
In Ihrem Buch geben Sie auch einen Abriss über die Gefahren der Atomwirtschaft vom Uranabbau bis zur Entsorgung. Warum haben Sie aus Ihrer persönlichen Geschichte auch ein Fachbuch gemacht?
Das gehört einfach zusammen und ist im Grunde ebenso spannend. Die Streifzüge durch die Wälder von Tschernobyl oder die Umgebung von Sellafield erhalten erst ihren Sinn, wenn man die Atomwirtschaft als Ganzes versteht. Man darf nie vergessen, dass es AKWs nur gibt, um militärisch nutzbares spaltbares Material zu gewinnen. Die Elektrizitätsgewinnung ist bloss ein Nebeneffekt, mit dem sich Geld verdienen lässt, solange die Allgemeinheit die Risiken bezahlt und die Entsorgung übernimmt.
Frau Hesse, wir freuen uns, dass wir dieses Buch für Sie und mit Ihnen machen durften. Wir wünschen dem Buch und Ihren Bildern grosse Verbreitung, auf dass sich etwas verändert in dieser Welt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Cornelia Hesse-Honegger: Die Macht der schwachen Strahlung – was uns die Atomenergie verschweigt. edition Zeitpunkt, 2016. 232 S., geb., mit 20 ganzseitigen farbigen Abb. Fr. 29.–/€ 26.–. ISBN 978-3-9523955-5-4. Bestellkarte im Umschlag.
www.edition.zeitpunkt.ch
Website der Autorin:
www.wissenskunst.ch
Cornelia Hesse-Honegger: Ich zeichnete schon als Kind sehr gerne. Eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen wie mein vor kurzem verstorbener Vater, das kam für mich aber nie in Frage. Bei uns verkehrten viele berühmte Künstler wie Rothko, Sam Francis und Stockhausen. Ich hatte eher die Mentalität einer Büezerfamilie und musste auch meinen Lebensunterhalt verdienen. Als Künstlerin, das wusste ich, würde das schwierig sein.
Und da geht man einem handfesten Beruf nach.
Gewissermassen. Es war aber dann doch mein Vater, der mir eine Ausbildung zur wissenschaftlichen Zeichnerin empfohlen und 1961 auch eine Lehrstelle bei Prof. Burla am zoologischen Institut der Universität Zürich organisiert hat. Eine reglementierte Ausbildung gab es zwar nicht, und er blieb bis zum Ende meiner Lehrzeit – ohne eigentlichen Abschluss – mein zweiter Lehrmeister. Er brachte mir auch verschiedene Techniken bei und hat meine Arbeit sehr gefördert.
Die bildgebenden Verfahren, die es damals noch nicht gab, sind heute ein wichtiges Element der naturwissenschaftlichen Forschung. Wann haben Sie zum ersten Mal entdeckt, dass die Illustration ein eigenständiger Erkenntnisweg ist?
Das war mit 17 Jahren in meinem ersten Lehrjahr. Ich musste für eine Dissertation Chromosomen nach einer Beschreibung zeichnen, und es wollte einfach nicht aufgehen. Es zeigte sich dann, dass etwas am Konzept nicht stimmte, und der Doktorand musste nachbessern.
Da konnten Sie erstmals punkten.
Ein bisschen, ja. Aber die Professoren mochten meine Zeichnungen nie. Sie bevorzugen Fotos, in denen gewisse Bereiche unscharf sein dürfen und die Interpretation frei lassen.
Das bedeutet aber auch, dass Sie als Illustratorin diese Interpretation vornehmen und nicht der Wissenschaftler.
Nein, sie machten jeweils präzise Vorgaben. Sie interpretierten eigentlich mehr als ich und ich wehrte mich manchmal dagegen. Die Illustration ist eher ein didaktisches als ein wissenschaftliches Instrument. Man kann Dinge hervorheben, anderes zurücknehmen oder sogar ganz weglassen. Es ist eine gleichzeitig subjektive und objektive Entscheidung. Dafür können alle, egal welcher Sprache, eine Illustration lesen. Und eine Illustration kann die wissenschaftliche Fantasie beflügeln. Denn die wissenschaftlichen Fragen, mit denen wir uns beschäftigen, werden von der Fantasie genährt. Jede Hypothese, die wir prüfen, entsteht zuerst in der Fantasie.
Was war Ihre erste Begegnung mit mutierten Lebewesen, die letztlich einen grossen Teil Ihres Lebens geprägt haben?
1967 zeichnete ich mutierte Fliegen, deren Eltern vorher im Laborversuch vergiftet worden waren. Ich musste zuerst lernen, missgebildete Fliegen zu lesen. Die Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit missgebildet, einzelne Teile hatten eine komplett andere Form, sodass man sie nur schwer identifizieren konnte. Das hat mich sehr beeindruckt und mir die Augen dafür geöffnet, wie tief die Eingriffe in die Natur gehen können. Die Zeichnungen der mutierten Fliegen erschienen auch in der Kulturzeitschrift «Du».
Und wie sind Sie auf die Wanzen gestossen?
Eigentlich durch Zufall. Bei meinen Streifzügen durch die Natur entdeckte ich, dass ihre Vielfalt viel grösser ist als in den Bestimmungsbüchern angegeben. Man sammelt Schmetterlinge, aber keine Wanzen. Dabei sind sie mindestens so schön und für die Darstellung der Wirkungen der radioaktiven Strahlung viel besser geeignet.
Wie kam es dazu?
1985 malte ich im Rahmen einer Forschungsarbeit Fliegen, deren Eltern im Labor nicht mehr vergiftet, sondern bestrahlt worden waren. Was ich sah, hat mir echte Angst eingejagt. Die Wissenschaft und die Atomwirtschaft waren daran, neue Naturformen zu kreieren und in die Welt zu setzen, ein unkontrollierter Versuch mit unbekanntem Ausgang. Diese Arbeit hat meine Sinne geschärft. Aber ich wäre noch nicht auf die Idee gekommen, verstümmelte Insekten in der Umgebung von Atomkraftwerken zu vermuten. Dazu braucht es ein heftiges Ereignis.
Und das ist mit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 auch eingetreten. Wie haben Sie davon erfahren?
Ein Freund vom Institut für Atomwirtschaft an der ETH Zürich informierte mich schon am Tag nach dem Vorfall. In die Medien gelangte die Information erst ein paar Tage später. Für mich war klar: Jetzt kommt meine Zeit.
Aber Sie sind erst später nach Schweden gereist.
Veränderungen an der Gensubstanz manifestieren sich erst in den folgenden Generationen. Es wäre sinnlos gewesen, sofort Wanzen zu sammeln, die mit dem radioaktiven Fallout in Kontakt gekommen waren. So fuhr ich 1987 nach Schweden. Ich hattee den Ort zufällig gewählt, bin aber im höchstverstrahlten Gebiet gelandet, in der Umgebung von Österfärnebo. Zuerst habe ich mich bei Biologen von schwedischen Universitäten erkundigt, ob Studien mit Insekten geplant oder schon im Gang seien. Die mehr oder weniger einheitliche Antwort war, das sei nicht nötig, die Strahlung sei zu niedrig, um Insekten zu schädigen.
Wie ging es weiter?
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich missgebildete Wanzen unter meinem Mikroskop und war sehr erschüttert. Ich malte sie vor Ort. Die Veröffentlichung der Bilder im Magazin des Tages-Anzeigers löste eine monatelange Kontroverse aus. Ich habe dann auch im Tessin gesammelt, einem weiteren Gebiet mit starkem Fallout, und in der Umgebung von Atomkraftwerken. Das Resultat war für mich eindeutig: Auch schwache Strahlung schädigt die Organismen.
Ihre Kritiker sagten, die Auswahl der Tiere entspreche nicht wissenschaftlichen Kriterien. Ein gewisses Mass an Genmutationen mit verstümmelnder Wirkung sei normal und man müsse genaue Zählungen in der Umgebung von AKWs machen und die Ergebnisse mit unversehrten Biotopen vergleichen. Was sagen Sie dazu?
Meine Feldstudien blieben bis ins Jahr 2012 einzigartig. Erst nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi haben japanische Wissenschaftler, angeregt durch meine Arbeit, mit Feldstudien begonnen, die auch zeigten, dass in diesem Fall Schmetterlinge und Blattläuse durch den Fallout des Atomunglücks schwer geschädigt wurden. Mit anderen Worten, die Wissenschaftler kritisierten mich 1988 und 1989 für etwas, das sie mit keiner eigenen Arbeit widerlegen konnten, denn sie hatten nach Tschernobyl nicht geforscht. Sie meinten, dass die Strahlendosen aus Tschernobyl zu gering seien, und sie gingen von einer äusserlichen Bestrahlung durch Röntgenstrahlung aus. Mein Argument aber ist, dass der radioaktive Cocktail selbst aus unseren normal funktionierenden Atomkraftwerken eine andere Wirkung hat als Röntgenstrahlen. Das heisst, die künstliche Strahlung aus unseren Atomanlagen ist hochgefährlich.
Nach fast 30-jähriger Forschungsarbeit und 17'000 gesammelten Wanzen und anderen Insekten kann ich belegen, dass die Schädigungsraten um ein Vielfaches höher sind, als allgemein angenommen wird.
Nachdem ich meine Arbeiten publiziert hatte, überraschte mich die Gehässigkeit, mit der man sie kritisierte. nahm viele der kritischen Punkte auf. Einer der kritisierten Punkte war, dass ich keine Kontrollgebiete aufweisen könne. Ich gehe allerdings davon aus, dass wir heute auf unserem Planeten keine unbelasteten Kontrollgebiete mehr haben, weil wir nicht wissen, wo sich der Fallout der Atombomben und Atomkatastrophen niedergelassen hat. Das heisst, meine Arbeit ist immer eine Bestandesaufnahme. Mein Messapparat ist die Natur, die mir darüber Auskunft gibt, wie es ihr geht. Wichtig war mir, vor allem bei uns in Europa und in der Schweiz zu forschen. Denn hier, so glauben wir, ist ja alles in Ordnung. Aber dem ist nicht so. Die Tiere haben es mir gezeigt.
Sie sind dann um die halbe Welt gereist, von Tschernobyl über Three Mile Island bis in die Atomtestgebiete von Nevada, und haben die Umgebung von Atomanlagen untersucht. Wie haben Sie das finanziert?
Ich hatte das Glück, für den Zürcher Seidenfabrikanten Fabric Frontline Dessins für Couture-Seide, Schals und Krawatten gestalten zu können. Sie waren sehr erfolgreich und wurden auf der ganzen Welt verkauft. Ausserdem unterrichtete ich an verschiedenen Schulen und Universitäten. Dies erlaubte mir eine vollkommene Unabhängigkeit, nicht nur finanziell, sondern auch gedanklich und in der Wahl meiner Forschungsthemen. Sonst hätte ich diese Arbeit gar nicht machen können.
Wie muss man sich das vorstellen: Da fliegt Cornelia Hesse zu den atomaren Hotspots dieser Welt und stöbert mit ihrer Insektenbüchse durch die Umgebung?
Ja, so war es in etwa. Manchmal dachte ich schon, ich würde mich im Niemandsland verlieren und alles sei sinnlos. Die Anlagen sind ja teilweise sehr abgelegen und man ist allein. Einmal telefonierte ich in Tränen aufgelöst aus einer Wüste mit meiner Schwester. Aber sie bestärkte mich in meinem Weg, wie viele Freunde auch.
Es gab auch Ausstellungen mit Ihren Werken.
Ja, ich wurde in viele Länder für Vorträge und Ausstellungen eingeladen, aber nur selten in der Schweiz. 1992 durfte ich die Schweiz an der XVIII. Triennale in Mailand vertreten. Diese Ausstellung wanderte in Europa und Kanada bis 1999 und wurde sogar an einigen Orten in der Schweiz gezeigt (Uster, Schaffhausen, Lausanne, Genf und Pruntrut). Das Bundesamt für Kultur stellte ein sehr schönes, viersprachiges Buch her, genannt «Nach Tschernobyl».
Enttäuscht?
Enttäuschung gehört zum Lernprozess. Wenn man eine Wahrnehmung für ein Problem gewinnt, das niemand sieht, dann denkt man zuerst, man sei möglicherweise verrückt. Mit der weiteren Arbeit wird die Erkenntnis klarer. Und dann ist man natürlich enttäuscht, wenn sie nicht geteilt wird. Insbesondere meine Generation, die 68-er, hat mich schon enttäuscht; auch die Frauenbewegung. Wenn wir mehr zu unseren Überzeugungen gestanden wären, wäre die Schweiz heute atomfrei.
Im letzten Herbst haben Sie im Senat in Washington den Nuclear-Free Future Award erhalten.
Ja, das war eine sehr grosse Genugtuung und eine schöne Anerkennung für die jahrzehntelange Arbeit.
In Ihrem Buch geben Sie auch einen Abriss über die Gefahren der Atomwirtschaft vom Uranabbau bis zur Entsorgung. Warum haben Sie aus Ihrer persönlichen Geschichte auch ein Fachbuch gemacht?
Das gehört einfach zusammen und ist im Grunde ebenso spannend. Die Streifzüge durch die Wälder von Tschernobyl oder die Umgebung von Sellafield erhalten erst ihren Sinn, wenn man die Atomwirtschaft als Ganzes versteht. Man darf nie vergessen, dass es AKWs nur gibt, um militärisch nutzbares spaltbares Material zu gewinnen. Die Elektrizitätsgewinnung ist bloss ein Nebeneffekt, mit dem sich Geld verdienen lässt, solange die Allgemeinheit die Risiken bezahlt und die Entsorgung übernimmt.
Frau Hesse, wir freuen uns, dass wir dieses Buch für Sie und mit Ihnen machen durften. Wir wünschen dem Buch und Ihren Bildern grosse Verbreitung, auf dass sich etwas verändert in dieser Welt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Cornelia Hesse-Honegger: Die Macht der schwachen Strahlung – was uns die Atomenergie verschweigt. edition Zeitpunkt, 2016. 232 S., geb., mit 20 ganzseitigen farbigen Abb. Fr. 29.–/€ 26.–. ISBN 978-3-9523955-5-4. Bestellkarte im Umschlag.
www.edition.zeitpunkt.ch
Website der Autorin:
www.wissenskunst.ch
23. März 2016
von:
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können