Wie das Unerträgliche ertragen! Aussteigen aus dem Kreislauf der Vermehrung von Angst, Hass und Gewalt

Freiheit für Gaza
Foto: Ehimetalor Akhere

Wie kann ich mein Herz offenhalten, wenn ich lese: Bis zum 25. Oktober schon 12´000 Tonnen Sprengstoff auf Gaza. Das entspricht der Sprengkraft von Hiroshima. Und täglich werden es mehr. 1,4 Mio Vertriebene. 43% aller Häuser in Gaza ganz oder teilweise zerstört. Und täglich werden es mehr. Von den tausenden zivilen Toten mehr als ein Drittel Kleinkinder und Säuglinge. Und täglich werden es mehr…

Wenn ich lese, dass ein Knesset-Abgeordneter unverhohlen droht, dass die Nakba von 1948 ein Kinderspiel war gegenüber dem, was Israel jetzt anrichtet. Wenn ein israelischer Veteran im Auftrag des «Verteidigungs»-Ministeriums die jungen Soldaten auffordert: «Wenn Sie einen arabischen Nachbarn haben, warten Sie nicht, gehen Sie zu ihm nach Hause und erschiessen Sie ihn.» (s. Chris Hedges: «Verlasse Gaza oder stirb»)

Fassungslos lese ich, dass sich Mord und Vertreibung in Gaza «rechnen»! Eine Woche nach der Hamas-Attacke wird ein Papier des Likud-Vorsitzenden Amir Weidmann veröffentlicht: «A Plan for Resettlement and Final Rehabilitation in Egypt of the Entire Population of Gaza,» based on the «unique and rare opportunity to evacuate the entire Gaza Strip».

Wie kann mein Herz offen bleiben, wenn ich – geprägt von Nazivergangenheit – lese, wie Amir Weitman bis ins Detail den Gewinn für das israelische Siedlerregime berechnet, wenn auch der letzte Palästinenser aus Gaza verschwunden ist – durch Vertreibung, Mord und Gewalt. «Eine sehr lohnende Investition»:

«Weitman acknowledged that his plan virtually amounts to Israel buying the Gaza Strip, arguing the move would be a very worthwhile investment for Zionists because it would add a lot of value over time.» (s. link oben)

Fassungslos lese ich, wie unser Staatsoberhaupt und die staatstragenden Medien unverbrüchliche Solidarität mit Israel als Staatsräson predigen und damit die deutsche Bevölkerung zur Mittäterschaft für ethnische Säuberung und Genozid auffordern. Während Kritiker dieser Gewaltpolitik mit dem Stigma des Antisemitismus mundtot gemacht werden.

Wo ist eine Alternative zur immer neuen Fortsetzung der endlosen wahnwitzigen Kreisläufe von Angst, Gewalt, Rache, Unterdrückung, der jahrtausendealten Geschichte der Traumatisierung der Menschen, seit das Patriarchat sich als „Herr“-schaftsform durchsetzte?

Der aktuelle Angriff durch Kräfte der Hamas fügt der jahrtausendealten Geschichte jüdischen Traumas ein weiteres Kapitel hinzu. Das braucht ein verstehendes Herz.

Der Angriff der Hamas kommt nicht aus heiterem Himmel. Eine traurige, für viele schwer auszuhaltende Wahrheit: Der Staat Israel wurde durch Gewalt, Vertreibung, Unterdrückung und Ermordung arabischer Einwohner Palästinas gegründet und wird durch ständige, strukturierte Gewalt des Siedlerkolonialismus und der Besatzung erhalten und ausgedehnt. Dies wird aktuell in nie dagewesenem Ausmass auf die Spitze getrieben. Das braucht – gerade bei uns Deutschen - umso mehr unser verstehendes Herz.

Wir erleben eine gesetzmässige Entwicklung, die den Kreislauf der Angst, Traumatisierung, Rache und Gewalt immer neu befeuert – wieder einmal.

Mit grosser Dankbarkeit und ehrfurchtsvoller Freude lese ich bewegende Worte des Palästinensers Sami Awad:

Liebe ist meine Quelle der Kraft. Denn sie besiegt meine Angst: Ich habe mich entschieden, mich gegen euren Hass zu stellen und euch nicht zu hassen, mich eurer Verfolgung zu widersetzen und euch nicht zu verurteilen, eure Unterdrückung zu überwinden und euch nicht zu unterdrücken, auf eure Gewalt mit Gewaltlosigkeit zu antworten. Ich habe mich entschieden, laut und deutlich für Freiheit und Leben zu sprechen und euch nicht zu beleidigen. Ich habe mich für die Liebe als Motivation entschieden.
Diese Liebe ist keine romantische Liebe, die mich dazu bringt, mich dir zu unterwerfen und dir alles zu geben.
Diese Liebe ist nicht die Liebe, die dein Handeln rechtfertigt und entschuldigt.
Diese Liebe ist meine Quelle der Kraft, denn sie besiegt meine Angst. Nur in dieser Liebe können wir zusammenkommen, um alle Systeme der Unterdrückung zu durchbrechen und das Neue zu schaffen.
(Quelle)

Es ist Angst, auf Mord und Totschlag mit Rache, Mord und Totschlag zu reagieren. Es ist Angst, die einen als Terroristen zu beschimpfen und die anderen als sog. Selbstverteidiger mit Waffen zu beliefern. Es ist Angst, die Kritik an der israelischen Politik mit dem Vorwurf des Antisemitismus mundtot machen zu wollen. Es ist Angst, sich mit unersättlicher Gier und mit gnadenloser Gewalt Land und Besitztümer auf Kosten anderer anzueignen.

Wir alle, Palästinenser, Israelis, Deutsche, wir alle weltweit, sind auf traumatische Weise «verbunden» durch Angst. Und wir sind durch eben diese Angst getrennt – von uns selbst, von unserer Natur und von unseren Mitgeschöpfen.

Wenn wir aus der Angst handeln, vermehren wir die Angst. Wir können uns entscheiden, unsere Angst und die des Anderen anzuerkennen. Mit unserem Herzverstand. Als Voraussetzung, aus dem Automatismus und Programm von Vermehrung von Angst und Gewalt auszusteigen. Als Voraussetzung für einen Programmwechsel zur Vermehrung der Liebe. Dieses Programm existiert schon immer. Es braucht eine Erinnerung und eine Einladung. Und es braucht eine Entscheidung - jetzt und jeden Tag neu.

Das ist mein Aufschrei – in Liebe: Ich wünsche mir Dich und Dich und Dich als Unterstützung auf unserem gemeinsamen Weg, mit offenem Herzen diese Entscheidung täglich und immer wieder neu zu treffen. Einzutreten in einen anderen Kreislauf – einen Kreislauf zur Vermehrung der Liebe.

Anregungen zum Thema «Aussteigen aus den Kreisläufen von Angst und Gewalt» habe ich einem weiteren sehr berührenden Text aus Tamera entnommen: Zur aktuellen Eskalation in Israel-Palästina.


Quellen:

Chris Hedges: Lass sie Zement essen. 25. Oktober 2023

Chris Hedges ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Journalist, der 15 Jahre lang als Auslandskorrespondent für die New York Times tätig war, wo er als Büroleiter für den Nahen Osten und den Balkan für die Zeitung fungierte.

«Verlasse Gaza oder stirb» Hier sagt Professor Raz Segal, der Holocaust-Studien leitet, dass Israel Völkermord begeht

Israel hat seine vier Reiter der Apokalypse losgelassen – Tod, Hungersnot, Krieg und Eroberung. Es hat den Bewohnern Gazas zwei Möglichkeiten gegeben: Gaza verlassen oder sterben. Palästinenser werden nicht nur durch Bomben und Granaten und schliesslich durch die Bodeninvasion, durch Kugeln und Panzergranaten getötet, sondern auch durch Hunger und Epidemien wie Cholera. Der ägyptische Präsident Abdulfattah al-Sisi warnte: «Was jetzt in Gaza geschieht, ist ein Versuch, zivile Bewohner zur Flucht und Migration nach Ägypten zu zwingen, was nicht akzeptiert werden sollte.» Israel macht kein Geheimnis aus seinen Absichten. Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte den Truppen, die sich auf den Einmarsch in Gaza vorbereiteten: «Ich habe alle Beschränkungen aufgehoben.» 

Knesset-Abgeordneter Ariel Kallner, Teil der Likud- Partei von Benjamin Netanyahu, forderte auf X, früher Twitter, «eine Nakba, die die Nakba von 48 in den Schatten stellen wird».

Die israelische Armee mobilisierte Ezra Yachin, einen 95-jährigen Armeeveteranen, um die Truppen zu «motivieren». Yachin war Mitglied der zionistischenLehi-Miliz, die zahlreiche Massaker an palästinensischen Zivilisten verübte.

«Seien Sie triumphierend und erledigen Sie sie und lassen Sie niemanden zurück. Löschen Sie die Erinnerung an sie», sagte Yachin zu den israelischen Truppen. «Lösche sie, ihre Familien, Mütter und Kinder», fuhr er fort. «Diese Tiere können nicht mehr leben. Jeder Jude mit einer Waffe sollte hinausgehen und sie töten», sagte er. «Wenn Sie einen arabischen Nachbarn haben, warten Sie nicht, gehen Sie zu ihm nach Hause und erschiessen Sie ihn.»