Ein Mann hat keine Angst

Angst ist etwas für Mädchen, dachte der Junge. Und lernte das Staunen über das weibliche Geschlecht – und seine eigenen Gefühle.

Nur das leise Rauschen des Baches war zu vernehmen, hin und wieder ein Knacken und Rascheln im Unterholz. Foto: Tobias Bjorkli

Ich erinnere mich an einen Abend im späten Herbst, als ich auf dem Heimweg von der Schule beschloss, einem Mädchen Angst einzujagen. Ich war damals 11, ein Junge im frechsten Alter, und der Nachhauseweg führte durch ein kleines, wenig begangenes Tobel, das bei Tage sehr lauschig, abends jedoch, wenn die Nacht einbrach, etwas unheimlich war. Immer montags hatten wir Schule bis sechs, und so war es draussen schon dunkel, als ich aus dem Schulhaus hinaustrat. Meine Mitschülerin, die Monika hiess und den gleichen Heimweg hatte wie ich, wollte auch gleich kommen. Ich aber eilte, ohne auf sie zu warten, voraus und erreichte nach wenigen Schritten das Tobel.

Nur gerade zwei Laternen erhellten den Weg im Innern des Wäldchens. Sie warfen ein schwaches Licht auf die Bäume am Wegrand. Dahinter lag alles im Dunkeln. Nach der ersten Laterne, hinter einem mächtigen Baum versteckte ich mich und wartete auf das Mädchen. Nur ein bisschen erschrecken wollte ich sie, es sollte ein Spass sein. Ich wartete.

Schulzimmer

Bis Ende August hat die 5-Minuten-Podcast-Kolumne von Nicolas Lindt Sommerpause. Damit wir nicht auf seine Texte verzichten müssen, veröffentlicht der Zeitpunkt jeden Donnerstag ein Kapitel aus seinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens».

Warum kam sie nicht? – Dass die hinter mir beginnende Dunkelheit so dunkel sein würde, hatte ich nicht gedacht. Ich horchte auf Monikas Schritte, ich freute mich hämisch auf den Moment, wo ich meinen Spass haben würde. Aber ich hörte nichts. Es war still.

Auch diese Stille hatte ich nicht erwartet. Nur das leise Rauschen des Baches war zu vernehmen, hin und wieder ein Knacken und Rascheln im Unterholz, dann wieder Stille. Das Licht der Laterne war bleich und kalt, nicht warm und nicht freundlich. Wann zeigte sich Monika endlich?

Jetzt – wieder ein Rascheln hinter mir in der Finsternis: Hatte nicht der Lehrer davon gesprochen, es gebe hier vielleicht Wildschweine? Mein Herz klopfte schneller. Was würde sein, überlegte ich, wenn Monika gar nicht käme, wenn sie den Umweg über die Strasse nähme, weil sie mich nicht gefunden hatte? – Lange mochte ich nicht mehr warten, es war schon spät. Ich wollte nach Hause.

Doch dann, als ich Monika auftauchen sah, vergass ich, womit ich gerungen hatte. Sie kam den Weg heruntergerannt, blickte weder nach links noch nach rechts, und ich dachte frohlockend: Die Angst, die sie hat! Und als sie auf meiner Höhe war, trat ich hinter dem Baum hervor und erschreckte sie.

Das Mädchen stiess einen gellenden Schrei aus.

Dann erkannte sie mich. Sie heulte auf, voller Wut, und rannte weiter, rannte, ohne stehenzubleiben und ohne sich umzuschauen.

Ich hätte mich weiden können an Monikas Angst, ich hätte sie auslachen können, doch ich tat es nicht. Ich vergass meinen Spass. Nur eines spürte ich noch: Wie hinter mir die Dunkelheit wuchs. Ein plötzliches Grauen erfasste mich, und ich sprang auf den Weg und rief voller Panik: «Warte auf mich!»

Allein in diesem Tobel bleiben wollte ich nicht, um nichts in der Welt. Ich rannte Monika nach, rannte wie sie durch den dunklen Wald, rannte, ohne stehenzubleiben und ohne mich umzuschauen. Ich flüchtete vor den Wildschweinen, vor den Gespenstern und vor den Mördern, ich flüchtete vor Gefühlen – von denen der Junge, der ich damals gewesen war, glaubte, er hätte sie nicht.

Was mir die Dunkelheit jenes Wäldchens enthüllte, war ein Schlüsselerlebnis, und ich hätte daraus etwas lernen können. Weil ich aber nichts lernen wollte, wiederholte sich diese Art von Erlebnis. Es wiederholte sich immer wieder, auch als der Knabe schon längst ein Mann war, einer im frechsten Alter, der die Dinge im Griff hat.

Wiederum eines Abends – es war ein Samstag, unsere Stadt erlebte den heissesten Sommer seit ihrer Gründung mit viel Krawallen und Polizei, und ich war verliebt, sehr verliebt –, geriet ich mit meiner Gefährtin in eine nächtliche Strassenschlacht. Wir retteten uns vor dem Tränengas in die Halle des Bahnhofs; doch als wir uns, etwas später, durch den Hinterausgang entfernen und nach Hause gehen wollten, war die Strasse wie leergefegt. Offenbar hatte die Polizei den Bahnhof grossräumig abgesperrt.

Die Ruhe, die plötzlich herrschte, schien uns kein gutes Zeichen. Meine Begleiterin hatte Angst. Am besten, sagte sie, wir bleiben im Bahnhof und trinken etwas. Da sind wir sicher.

Ich aber wollte mich vor der Polizei nicht verstecken, das passte mir nicht. Die Bedenken meiner Freundin zerstreuend fand ich, irgendwie kommen wir schon nach Hause; und ausserdem interessierte mich, was uns da draussen, hinter dem Bahnhof erwarten würde. Meine wiederholte Versicherung, alles werde gut gehen, bewirkte schliesslich, dass die Frau – wie so oft – sich trotz ihres schlechten Gefühls überreden liess, dem Mann ins Ungewisse zu folgen. Wir liefen los.

Niemand war ausser uns unterwegs. Es gab nur uns und diese sonst so belebte, vielbefahrene Strasse, die jetzt, im Neonlicht dieses Abends geradezu geisterhaft leer aussah. Schutz suchend gab mir meine Freundin die Hand.

Und dann geschah es, und es war wie ein Schock. Zwei polizeiliche Kastenwagen fuhren heran und hielten in nur 20 Schritten Entfernung. Aus den Wagen sprangen Beamte in Kampfmontur, die augenscheinlich den Auftrag hatten, Demonstranten, die aus dem Bahnhof kamen, zurückzudrängen und einzukesseln.

Auf der ganzen Breite der Strasse bezogen sie Stellung, ihre schwarzen Helme glänzten bedrohlich, so standen sie – und erwarteten uns. An ein Entkommen war nicht zu denken. Wir bewegten uns direkt auf sie zu, und wie ein unbeteiligtes Liebespaar wirkten wir kaum, die Gesinnung sah man uns an. Ausserdem war ich - nach den Ereignissen jenes Sommers – kein unbeschriebenes Blatt bei der Polizei, und ich dachte nur dies: Dass ich in wenigen Augenblicken verhaftet oder zusammengeschlagen oder beides sein würde.

Meine Füsse wollten nicht weiter. Meine Knie wurden weich und mein Magen taumelte. Jenes Gefühl, von dem ich glaubte, ich hätte es nicht, kam auch diesmal ganz unerwartet, und ich konnte nichts dagegen tun.

Da spürte ich wieder die Hand meiner Freundin. Es war dieselbe Hand wie vorher, doch ihr Druck war jetzt ein ganz anderer.

«Wir gehen da durch!» zischte sie mir, mit kalter Entschlossenheit, zu. Und bevor ich mich dazu äussern konnte, zog sie mich mit sich und schritt voraus, und die Männer mit den schwarzen Helmen liessen uns durch und hielten uns für ein unbeteiligtes Liebespaar.

Als wir die Hüter der Ordnung hinter uns hatten, sass mir der Schreck noch im Nacken, und ich brauchte einen Moment, um mein System wiederherzustellen. Endlich fragte ich meine Begleiterin – noch immer staunend über das, was geschehen war –, woher sie bloss ihre Sicherheit nahm?

Sie wusste es nicht. Frauen wissen so etwas nie. Sie sagte nur, sie habe wirklich sehr Angst gehabt. Doch dann habe sie einfach gedacht, Angst darf ich jetzt keine haben. Und es habe gewirkt. Sie war selber darüber erstaunt.

Die Frage liegt nahe, ob ich diesmal bereit war, etwas zu lernen. Ich war es nicht; und ich glaube inzwischen, ein Mann hat da seine Grenzen. Viele weitere Jahre sind seither vergangen. Meine Liebste – ja, dieselbe wie damals, in jenem heissen, fiebrigen Somme – ist noch heute die Vorsichtigere von uns beiden.

Und ich, ihr Held und Beschützer, habe heute noch keine Angst.

Sie lässt mir die Freude.