«Eine andere Welt ist nicht nur möglich. Es gab sie schon.»

Wie wollen wir leben? Wie schaffen wir eine friedlichere Zukunft? Können wir in Einklang leben – auch mit denen, die anders sind oder denken? In ihrer Kolumne nimmt uns die Autorin mit auf eine weitere Station ihrer Forschungsreise.

Die Alhambra öffnet den Blick auf eine geträumte Friedenskultur. Foto: Heike Cappel

Die nächste Station meiner Zukunftsreise (die erste führte mich ins Wendland) bringt mich ungefähr 600 Jahre in die Vergangenheit, und zwar nach Granada in Spanien, zur Alhambra. Diese Gärten, Burgen, Schlösser am Fusse der Sierra Nevada waren fast dreihundert Jahre lang das letzte grosse Zentrum der Mauren in Spanien. Die Nasriden-Sultane förderten Künste, Wissenschaft, Medizin. Die herrschenden Moslems behandelten Christen und Juden als «Schutzbefohlene» – das heisst, dass sie zwar erhöhte Steuern zahlen mussten und nur in bestimmten Vierteln leben durften. Aber als Andersgläubige durften sie immerhin ihre Religion und Kultur leben – und das war mehr Toleranz als in allen anderen Ländern des damaligen Europas. So trugen auch die Nicht-Moslems zur Entwicklung des Emirats bei und beeinflussten, stärkten, bereicherten seine Kultur und Wirtschaft.

Durch die Alhambra zu gehen – und das noch Hand in Hand mit einem geliebten Menschen – ist ein wunderbares Erlebnis. Klugheit, Kunstfertigkeit und Sinn für Harmonie haben ein grossartiges Zusammenspiel von Licht, Wasser, Stein, Holz, Säulen, Mustern, Nischen und Schriften geschaffen. Überall tropft, fliesst, rauscht Wasser, Himmel und Alkoven spiegeln sich darin; und kein Haus ist ohne ausgeprägtes Bad für leibliches Wohlbefinden und Genuss. Über vielen Türen prangt das Abbild eines Schlüssels: Symbol für Gastfreundlichkeit und Willkommen. Und auf sämtlichen Wänden und Flächen, über dem Thronsaal, in den Bädern und Gemächern steht der Leitspruch der Nasriden: «Es gibt keinen Sieger ausser Gott.» 

Ich persönlich übersetze mir Gott hier gerne mit: «das Ganze», «das Leben» oder: «die Liebe». Es gibt also keinen Sieger ausser der Liebe. Oder, wie Dieter Duhm schrieb: «Wenn das Leben siegt, wird es keine Verlierer geben.» 

Wie muss das sein, so ein Motto im Alltag, in jedem Moment vor Augen zu haben? Macht das ein Urteil milder – eine Entscheidung umfassender – eine Intervention bescheidener – eine Interaktion achtsamer? Wie lange dauert es, bis das Ego wieder zuschlägt und sagt: «Du bist der Herrscher, mach dir alle anderen untertan, bevor sie es tun!»

Während ich durch die wunderschönen Säle wandle, kommt mir eine Frage: War dieses Gesamtkunstwerk vielleicht ein früher Versuch von Menschen, eine bewusste Friedenskultur aufzubauen? Ich weiss, das klingt naiv. Denn auch damals gab es Konkurrenz, Heuchelei, Bruderkrieg, Mord- und Totschlag. Die Zeit der Nasriden war alles andere als gewaltfrei. Dennoch muss es hier Menschen gegeben haben, die eine Ahnung von Schönheit und einer besseren Welt hatten. Und die diese bessere Welt in Form von Kunst, Handwerk, Literatur und Wissenschaft ausdrücken wollten.

Hört mal her, ihr Globalisierungskritiker und Wandelprediger: Eine andere Welt ist nicht nur möglich. Es gab sie bereits. Zumindest in den Träumen und Visionen der Dichter, Maler, Kulturschaffenden der Alhambra. Muss sie wirklich ein Traum bleiben? Müssen wir immer zurückfallen in unsere Ego-Höllen, in unsere Misstrauensgefängnisse, unsere Besserwissens-Einsiedeleien? 

Die Nasriden-Kultur von Andalusien bestand lange, zerfiel aber schliesslich doch. Zunächst durch innere Querelen, dann durch das Erstarken der äusseren Feinde: der katholischen Könige. Der letzte Sultan wurde geschlagen. Kaiser Karl V. errichtete schliesslich auf dem Alhambra-Gelände einen eigenen Palast. Wie der Herrscher dieses «Reiches, in dem die Sonne nie unterging» selbst, so strotzt dieser Palast von hässlichen, monolithischen Machtsymbolen. No Nonsens: Hier wurde nicht gespielt, genossen, gedichtet. Er und sein paranoider Sohn Philip II. schufen ein Machtzentrum für Ketzerverfolgung und Kolonialisierung – so einsam, dass sie selbst daran verzweifelten. Und die letzten hier lebenden, maurischen, zum Christentum konvertierten Familien liessen die Bäder zuschütten. Nicht zu baden – jedenfalls nicht bequem und in schöner Umgebung – schien ein Beweis dafür zu sein, der richtigen Religion zu folgen. An Stelle der Bäder liessen sie Verliese bauen. 

Che Guevara sagte einst: «Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams.» Ich finde, wir sollten zwei, drei viele Alhambras schaffen. Alhambras des Miteinanders und des Friedens.

Aber immer noch steht die Alhambra. Immer noch inspiriert uns ihr Beispiel früher Toleranz und Grosszügigkeit. Können wir nicht von ihrer Schönheit und Weisheit lernen? Und mir wird klar: Eine Friedenskultur aufzubauen, das bedeutet, diese unglaublichen Harmonien in reale Verhältnisse unter Menschen zu übersetzen. In die Zusammenarbeit, die Beziehungen, die Kommunikationsformen mit unseren Nachbarn, Partnern, Konkurrenten, Geliebten und Familien. All die prächtigen Muster, Farben und Formen sind ein Abbild des Himmels. Und damit des Schönsten, was Menschen erleben können: Vertrauen. Liebe. Frieden untereinander.

«Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Menschen», sagte Friedrich Nietzsche. Und wo Che Guevara vorschlug: «Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams.» - sage ich, wir sollten zwei, drei viele Alhambras schaffen. Alhambras des Miteinanders und des Friedens.

Alhambra