Engagierte Spiritualität

Die alten Grabenkämpfe zwischen der politischen „Linken“ und den Vertretern einer spirituellen „Innerlichkeit“ müssen endlich beendet werden. Sie nützen nur denjenigen, die an einer – im doppelten Wortsinn – unbewussten Bevölkerung interessiert ist. Eine moderne, undogmatische, mystische Spiritualität ist befreiend,bewusstseinserweiternd, solidarisch und ökologisch. Man könnte mit ihr in jeder Hinsicht Staat machen. (Roland Rottenfußer)

Politik und Spiritualität – geht das zusammen? In einer säkularisierten Gesellschaft verbinden viele mit spirituell inspirierter Politik eher Horrorvorstellung. Die jahrtausende alte unheilige Allianz von Thron und Altar kommt ins Blickfeld, Kirchensteuer und das Prinzip „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Man kann dabei auch an den islamischen „Gottesstaat“ der Ayatollahs denken oder eine „christlich-soziale“ Politik, die mit „christlich“ und „sozial“ ungefähr so viel zu tun hat, wie das Orwellsche „Wahrheitsministerium“ mit der Wahrheit.


Ich selbst habe mich, was spirituelle Politik betrifft, vor einigen Jahren eher als Spötter hervorgetan und in einer Satire das Zerrbild einer esoterischen Partei entworfen. „Sozialhilfe abschaffen, der Reichtum ist in dir“ lautete der Slogan dieser imaginären Partei. Auf den Sozialämtern wurden statt Geld Positiv-Denken-Ratgeber ausgegeben, die den „Weg vom Mangelbewusstsein zum Füllebewusstsein“ aufzeigen sollten. Außerdem war jene Partei von einem antidemokratischen hierarchischen Elitarismus beseelt: „Es kann keine Gleichheit der Rechte geben zwischen uralten Seelen und solchen, die noch im Stadium der Kindheit verharren“. Völlig aus der Luft gegriffen war meine Satire leider nicht. Sie war einer Realität abgelauscht, in der Extrem-Esoteriker sogar so weit gehen, Armut, Hunger und Holocaust als pränatal frei gewähltes (karmisches) Schicksal zu bezeichnen.


Wer spirituell ist, muss politisch sein


Über „rechte Esoterik“ gibt es eine Reihe lesenswerter Veröffentlichung, z.B. von Roman Schweidlenka oder von der streitbaren Ex-Grünen Jutta Dithfurth („Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-) Faschismus und Biozentrismus“). Diese Aufklärungsarbeit hat, obwohl sie in manchen Fällen mit Polemik und eher schikanösen Argumentationsmustern arbeitet, durchaus ihrer Verdienste. Ein waches Bewusstsein gegenüber den Gefahren einer „rechten“, inhumanen oder autoritär-faschistoiden Esoterik ist immer geboten. Dennochhabe ich mich als Redakteur des spirituellen Monatsmagazins „connection“ fünf Jahre lang vehement dafür eingesetzt, dass es zu einer Zusammenarbeit der „feindlichen“ Brüder Spiritualität und Politik kommen möge. „Wer spirituell ist, muss meines Erachtens politisch sein“, schrieb ich 2003. Und umgekehrt: „Allzu lang haben wir die Politik Menschen ohne spirituelles und ethisches Fundament überlassen– und dementsprechend sieht unsere Welt heute aus.“


Wie komme ich zu solchen Aussagen? Mit großem Interesse habe ich erst unlängst eine Textpassage des Dalai Lama gelesen, in der dieser ähnlich argumentiert: „Es gibt eine philosophische Meinung, die Moralisten davor warnt, sich in Politik einzumischen, weil diese der ethischen und moralischen Grundsätze entbehre. Diese Entwicklung gibt Anlass zur Sorge, denn eine Politik ohne ethische Grundsätze dient nicht dem Wohl und Nutzen des Menschen.“ Und weiter: „Man hört des öfteren von spirituellen Menschen, dass sie die Vermischung von Politik und Religion mit Sorge erfüllt, da sie eine Verzerrung der Ethik durch Politik und dadurch eine Verunreinigung der Religion befürchten. Solche Überlegungen sind nicht nur selbstsüchtig, sondern auch in sich widersprüchlich. Alle Religionen sind ja dazu da, dem Menschen zu dienen und zu helfen, und mit jeder Abgrenzung von Religion gegen Politik gibt man ein machtvollesInstrument preis, das im Sinne des sozialen Wohlergehens der Menschen wirken soll.“


Hat der Weg ein Herz?


Der Dalai Lama oder auch Mahatma Gandhi können durchaus als ermutigende Beispiele für eine Verbindung politischen Einflusses mit spiritueller Tiefe gelten. Auch das soziale Engagement von Persönlichkeiten wie Franz von Assisi oder der zeitgenössischen „Kuschelmeisterin“ Amma (Mata Amritanandamayi), die für unzählige karitative Hilfsprojekte in aller Welt verantwortlich zeichnet, können kaum geleugnet werden. Dass es ebenso viele – wenn nicht mehr – Gegenbeispiele für eine misslungene „polit-spirituelle“ Experimente gibt, will ich nicht bestreiten. Die Frage ist nur welche Schlüsse wir daraus ziehen und welche Tendenz wir künftig fördern wollen: eher die strikte Trennung der beiden Welten oder den Versuch einer Annäherung, eines wachsenden gegenseitigen Verständnisses.


Zunächst müssen wir sauber trennen zwischen Religion (dem institutionalisierten, durch Schriften, Priester und Organisationen vermittelten Gottesbezug) und Spiritualität, der Geistigkeit, die ihren Sitz im Inneren des einzelnen Menschen selbst hat. Religion begrenzt uns, weil sie versucht, uns in ein – vermeintlich gottgegebenes und somit unantastbares – Ordnungssystem einzubinden. Spiritualität dagegen befreit, weil sie uns mit unserem innersten Selbst in Kontakt bringt, das uns in dem Maße, wie wir es erschließen, von allen weltlichen Bindungen unabhängig macht. Wir müssen ebenso zwischen Esoterik (Geheimwissen, beschränkt auf einen „inneren Kreis“) und Exoterik (nach außen hin praktizierte Religion) unterscheiden. Und schließlich müssen wir uns fragen: Wer praktiziert einen bestimmten spirituellen Weg und wie geschieht dies? Wird ein Schritt in Richtung Befreiung gegangen oder in Richtung „selbstverschuldete Unmündigkeit“ (Immanuel Kant), fördert Spiritualität einen mitfühlenden und unterstützenden Umgang mit anderen Wesen oder verhärtet sie uns, führt uns zu einem vielleicht lediglich egozentrisch Erleuchtungsstreben? Mit einem Wort des spirituellen Kultautors Carlos Castaneda könnte man all diese Fragen so zusammenfassen: Hat der Weg ein Herz?


Hitlers vernünftelnde Erben


Dies für die Gesamtheit spiritueller Wege und Bekenntnisse pauschal mit „Ja“ oder auch mit „Nein“ zu beantworten wäre Unsinn. Autorinnen und Autoren wie Jutta Dithfurth haben sich auf Auswüchse „rechter“ Esoterik eingeschossen und damit sicherlich eine beachtenswerte Teilwahrheit, aber eben nur eine Teil-Wahrheit erfasst. Gerade auf Seiten der Linken hängt dieser anti-sprituelle Reflex vielleicht mit einem Phänomen zusammen, das Wolfgang Schmidt-Reinecke das neudeutsche Irrationalitätstrauma nennt. Schmidt-Reinecke argumentiert, die Nazis hätten „für Generationen das spirituelle Klima in Deutschland vergiftet“. „Die innerhalb einer tiefen Seelenschicht vorgenommene Verwechslung der nationalsozialistischen Ideologie mit spirituellen Idealen führte mit dem Untergang dieser Ideologie bei einer Mehrheit der Deutschen zwangsläufig auch zur Verdrängung spiritueller Orientierungen.“ Vereinfacht gesprochen besagt diese Theorie folgendes: Weil sich die Nazis in missbräuchlicher Weise okkulter spiritueller Gedanken bedient haben, suchen wir unser Heil nur noch in staubtrockener wissenschaftlicher Rationalität. Weil seit 1945 alles Pathetische, Irrationale und Mystische „pfui“ ist, haben wir gleichsam einen Teil unserer Seele amputiert und uns auf eine korrekte, aber im Grunde verarmte Existenzform reduziert: als Hitlers vernünftelnde Erben.


Auch dies ist vermutlich nur eine Teilwahrheit, denn die Furcht vor den der eigenen Seele innewohnenden Untiefen – vor dem eigenen Schatten ebenso wie vor einem möglicherweise das Vorstellungsvermögen unseres Verstandesübersteigenden „Licht“ – ist sicher älter als das Faschismustrauma. Treffend beschreibt der Journalist Geseko von Lüpke in der Zeitschrift „connection“ das Unbehagen der politisch Aktiven, speziell der „linken“ Szene, gegenüber allem Spirituellen: „Das Misstrauen der Politik gegenüber der Religion ist uralt und hat gute Gründe. Historisch war der religiöse Weg zuerst immer ein Weg des Rückzugs aus der Welt, der Suche nach innen, des individuellen Friedens und der letztlich unpolitischen Zufriedenheit im Alleinen. Deshalb war Religion für Lenin‚Opium fürs Volk’. Sie machte passiv, züchtete gut zu regierende, anpassungsfähige Streber nach dem Paradies, nicht aber stolze, konsequente, kreative und unbeugsame Aktivisten für den Kampf um soziale Gerechtigkeit. (…) Das Religiöse wurde damit zum Werkzeug der Macht, zum Ausdruck des Unpolitischen selbst. Aufklärung, die Freiheit der Gedanken, politische Bewusstheit, Demokratie und Sozialismus mussten sich mühsam durch einen Brei religiöser Entmündigung und gläubig-schicksalsgläubiger Apathie kämpfen, der wie Klebstoff das eigenständige Denken verhinderte.“


Von Lüpke beschreibt ausführlich die tatsächlich „rechtslastigen“ Phänomene innerhalb der spirituellen Szene wie etwa „fremdenfeindliche ‚Öko’-Konzepte, reaktionäre Heimatverbundenheit, nationalistisch verbrämtes ‚Stammesbewusstsein’, autoritäre, ‚germanische’ Erdrituale und der ruf nach einer ökologischen Bewusstseinsreform hin zum ‚Reinen, Schönen und Wahren“ Er wendet sich aber auch gegen Vorurteile innerhalb der „linken“ und der Ökoszene, die alle Ansätze von Spiritualität (wie es sie in der Hippie- und der beginnenden Grünen-Bewegung durchaus gab) als „abtrünnig, weltfremd und versponnen“ abkanzeln. Geseko von Lüpke schließt seinen Aufsatz: „Spiritualität kann Politik befruchten, und Politik kann zur spirituellen Praxis werden. Die alten Trennungen sind aufgehoben, die Grabenkämpfe können eingestellt werden. In Zukunft wird es darum gehen, den spirituell Suchenden dabei zu helfen, die inneren Reformen ins Außen zu tragen und die Aktivisten dabei zu unterstützen, die Reform der Welt im Innen zu verankern.“


Mystik – nichts für „Diesseits-Drückeberger“


Ist er da nicht allzu optimistisch? Ich möchte zeigen, dass Spiritualiät, wie ich sie verstehe, ihrem Wesen nach befreiend, bewusstseinserweiternd, solidarisch und ökologisch ist – also „links“, wenn man es etwas überspitzt ausdrücken will. Eine solche Spiritualität macht Lust und ist mit jeder Art sozialen, ökologischen und politischen Engagements mehr als nur vereinbar, sie legt dieses Engagement sogar nahe. Spiritualität, wie ich sie hier verstehe, kann beinahe synonym mit einem anderen Begriff verwendet werden: Mystik.


Auch mit „Mystik“ wird oft das Bild vom Studierzimmer-Eremiten oder vom meditierenden Weltflüchtling und Diesseits-Drückeberger verbunden. Dieses Bild kommt nicht von ungefähr, und möglicherweise hat die (missverstandene) Geschichte des Buddha ihren Anteil daran. Der junge Buddha verließ den Palast, in dem er aufgewachsen war und sah das Elend der Welt. Er suchte einen Weg zur Befreiung vom Leiden – und war tat er? Er setzte sich unter einen Baum und meditierte. Während Jesus, viele Kranke, die ihm begegneten, heilte, wandte sich der Buddha zunächst Anblick des Leidens ab und ging nach innen. Es besteht kein Zweifel, dass Buddha der Menschheit einen großen Schatz an spiritueller Weisheit hinterlassen hat. Das Problem ist jedoch, dass sein Vorbild weitreichende Auswirkungen hatte auf unser Bild davon, was einen spirituellen Menschen ausmachte. Der selbe Buddha war es, der seine Jünger ermutigte, ihre Familien zu verlassen, um sich ganz dem eigenen Erleuchtungsweg zu weihen. Erleuchtungs-Egoismus? Jedenfalls taucht ein sehr nahe liegender Einwand auf: Wenn wir alle eins sind, wie viele Weisheitslehrer behaupten, warum dann nur nach innen gehen? Warum nicht auch für eine Familie sorgen, einen Baum pflanzen, Gemeinschaften gründen und die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen verbessern helfen?


Natürlich ist die Lehre des Buddha geduldig und vieldeutig wie die Jesu. Auch Jesus forderte seine Jünger, z.B. Petrus, auf, ihre Berufe und Familien liegen und stehen zu lassen und ihm zu folgen. Er argumentierte aber auch, man solle zuerst mit seinem Nächsten versöhnen, bevor man seinem Gott im Gebet begegne. Es kommt darauf an, was wir in den Schriften lesen und was wir aus ihr machen wollen. Ein weiser und glaubwürdiger Wanderer zwischen den (spirituellen) Weltenist der Benediktiner-Pater und Zen-Eingeweihte Willigis Jäger, dem nach Meinungsverschiedenheiten mit der katholischen Mutterkirche das Recht entzogen wurde, Sakramente zu spenden und öffentlich zu lehren. Jäger meint, dass dem Zen, so wie es heute gelehrt wird, ein sozialer Akzent fehle. „Wir haben meiner Meinung nach vergessen zu sagen: du hast eine soziale Verantwortung. Du hast nicht nur die Aufgabe, die Menschen in die Erlösung, in eine tiefere Einsicht zu führen, du hast auch die Aufgabe dich auf demsozialen, dem gesellschaftspolitischen Gebiet zu engagieren. Das ist die Erkenntnis, die wir als Westler auch dem Zen – den östlichen Wegen ganz allgemein – hinzufügen können und sollen.“


Unser größeres Selbst


Willigis Jäger sagt, dass jedes Teil und auch jedes Einzelwesen seinen Sinn durch die Verbindung zum Ganzen erhält: „Erkennen und erfahren, dass wir eins sind –daraus kommt eigentlich alle Ethik. Die Ethik kommt nicht aus ‚du sollt, du musst oder du darfst nicht’. Sie kommt aus dieser Erfahrung der Einheit heraus. Wenn ich die Not des Anderen als meine Not erfahre, dann tue ich gleichsam etwas für mich, wenn ich dem Anderen helfe.“ Mystik, so könnte man schlussfolgern, ist ihrem Wesen nach sozial; religiöse Institutionen sind es nicht unbedingt, weil sie häufig auch mit einer Rhetorik der Ausgrenzung gegenüber den „Nicht-Dazugehörigen“ oder „Nicht-Linientreuen“ arbeiten.Da Mystik der innere, dem unmittelbaren Erleben entspringende Kern aller Religionen ist, soll hier auch kein religiöses Bekenntnis gegen das andere ausgespielt werden. Soziale und nicht-soziale Strömungen können sich vielmehr vor jedem kulturellen und religiösen Hintergrund entfalten.


Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh hat beispielsweise eine moderne Spielart des engagierten Buddhismus entwickelt, die mit Weltabgewandtheit nichts zu tun hat. Seine Argumente lehnen sich eng an die Schriften des Religionsgründers an und seine Lehre vom „Nicht-Selbst“ an. Was der Mensch sein „Selbst“ nennt, ist nach Buddah durchdrungen von Elementen des „Nicht-Selbst“ – etwa Wasser, Luft, pflanzliche und mineralische Strukturen sowie auch Bewusstseinsströmungen, die nicht seiner (eigentlich nur illusionären) Persönlichkeit angehören. Thich Nhat Hanh nennt diese Erkenntnis „die Lehre des gegenseitigen Sich-Durchdringens, des Zusammenseins (interbeing). Man kann nicht einfach nur sein, man muss mit sein, von allem durchdrungen“. Von Thich Nhat Hanh stammt auch der schöne Satz: „Wir müssen beginnen, die Erde in uns weinen zu hören.“ Er entwirft ein ganz anderes Bild von einem religiösen Menschen: „Wenn die Erde dein Körper wäre, könntest du viele Bereiche wahrnehmen, an denen sie leidet. Viele Menschen sind sich des Leidens der Welt bewusst, und ihre Herzen sind voller Mitgefühl. Sie wissen, was getan werden muss. Sie setzen sich auch politischer, sozialer und ökologischer Ebene ein, um die Zustände zu verändern.“


Soziale Mystik


Den Begriff der „sozialen Mystik“ benutzt ganz explizit auch die US-Amerikanerin Joanna Macy, bekannt als die große alte Dame der Tiefenökologie. Joanna Macy spricht vom Modell eines „Ökologischen Selbst“, wodurch das herkömmliche Bild vom „hautverkapselten Ego“ aus den Angeln gehoben werde. Dadurch werde auch der Begriff des „Eigennutzes“ um eine entscheidende Dimension erweitert. Man kann nicht einen Baum fällen, ein Tier quälen oder einen Moorsee verseuchen, ohne dadurch zugleich seinem erweiterten Selbst oder größeren Körper zu schaden. Die Empfindung, dass die Erde unser Körper ist, entspricht der hinduistischen Erkenntnis „Tat tvam asi“ (Wörtlich: „das bist Du“, Leitsatz der Upanishaden, heiliger Schriften der Hindus). Was immer du vor dir siehst, meint dieser Satz, ist nicht von dir getrennt, du bist es selbst.


Was spirituell inspirierte Politik bedeuten könnte, ist – in allgemeinen Worten gesagt – ziemlich einfach. Sie würde in allen ideologischen und konkreten Fragen die geistig-spirituelle Innenseite der Dinge berücksichtigen, sozusagen ihre Seele. Tiefenökologie z.B. unterscheidet sich vom herkömmlichen Umweltschutz dadurch, dass sie in der Natur einen göttlichen Geist erkennt. Die Natur besitzt somit eine Würde jenseits ihres Nutzwertes und ist mehr als nur eine hübsche Kulisse für menschliches Handeln. Vor allem ist sie nichts, was vom Menschen grundsätzlich verschieden ist. Was schützt denn der Umweltschützer? Sich selbst, denn er ist die Natur, und beide – die Natur wie der Mensch – sind Teile des göttlichen Ganzen.


Tiefenökologie, Tiefenpolitik?


Natürlich könnte man an dieser Stelle auch das Wort „göttlich“ weglassen. Es genügt die Erkenntnis, dass alle Phänomene, alle Lebewesen im Universum untereinander zu einem allumspannenden Netz verwoben sind. Wozu braucht es da Gott? Das ist eine weit reichende Frage, mit deren Beantwortung man Bücher füllen könnte. Gewiss kommt man ohne den Begriff eines persönlichen Gottes aus – eine solche Begriffswahl ist Glaubenssache–, kaum aber ohne ein Prinzip wie „Geist“ oder „Bewusstsein“. Wer den Geist leugnet, gleicht jenem außerirdischen Wissenschaftler, der eine CD mit Werkzeugen zerhackt und dann beklagt, er habe nirgendwo Musik gefunden. Der amerikanische Philosoph Ken Wilber nennt philosophische Richtungen, die ein Netz bzw. System des Lebens postulieren, ohne eine entsprechende geistige Tiefendimension hinzuzufügen, „Flachland“. Und „flach“ ist gewiss nicht nur die politische Landschaft von Wilbers Heimat, den USA.


Tiefenökologie ist Ökologie aus einem mystischen Weltbild und mystischen Erleben heraus. In ähnlicher Weise kann es auch Tiefenpolitik und Tiefenökologie geben. Von einem mystischen Standpunkt aus gesehen, kann ich nicht Krieg gegen ein anderes Land führen, weil der Andere, den ich angreife und töte, nicht von mir getrennt ist. Tat tvam asi, das bin ich selbst. Analog dazu werde ich keinen meiner Mitmenschen ausbeuten wollen, denn als Ausbeuter bin ich mit dem Ausgebeuteten energetisch verbunden. Man sieht also, dass ernst gemeinte Spiritualität oder Mystik enorme politische Konsequenzen hätte. Der Teufel steckt mit Sicherheit auch hier im Detail, aber ich habe nicht den Eindruck, dass mit spirituell inspirierter Politik bereits in so großem Stil experimentiert wurde, dass man von einem Scheitern sprechen kann.


Wozu überhaupt Spiritualität?


Spiritualität ist nicht „automatisch“ links, auch nicht solidarisch, befreiend, bewusstseinserweiternd. Man hat mit dem „mystischen“ Argument, der Einzelne finde seine Bestimmung hauptsächlich im Kontext eines größeren Ganzen, auch schon militärische Formalausbildung und Marschkolonnen gerechtfertigt. Es macht aber keinen Sinn, das „Kind“ der Spiritualität mit dem „Bade“ gewisser rechts-esoterischer Extrempositionen auszuschütten. Wozu überhaupt Spiritualität? lautet die Kernfrage. Genügt es nicht ein allgemeines Gespür für Humanität und für das was „anständig“ wäre im Kontext des politischen Handelns? Für viele Menschen sicher. Ich kann hier nur erklären, warum ich Spiritualität für mich selbst nicht missen möchte – und dies, „obwohl“ ich, wie gewiss viele Leser dieser Seite


Spiritualität zeigt uns, dass wir nicht bloß ein Stück Treibholz auf dem See sind, sondern der See selbst – bis hinunter in seine unergründeten Tiefen. Spiritualität zeigt uns (uns zwar durch direktes Erleben, nicht bloß durch theoretische Belehrung), dass wir mit einem potenziell unendlich großen Bewusstseinsraum verbunden sind, der zur Erschließung ansteht. Spiritualität überschreitet und durchbrichtGrenzen: solche der politischen und gesellschaftlichen Systeme wie auch solche des Denkens und Erlebens. Es ist die Sehnsucht des Wassertropfens nach dem Meer. Es ist die Sehnsucht des in die Körperlichkeit und in die Begrenzungen des gesellschaftlichen Massenbewusstseins Verbannten nach dem „Mehr“. Dieselbe Sehnsucht kann uns in Meditations-Retreats führen, in denen es hoch diszipliniert zugeht – oder zur ausschweifenden Entgrenzung, zu Sex, Drugs und Rock n’Roll.


Jenseits der Sachzwänge


Spiritualität löst uns aus unseren Verpflichtungen zur Konformität heraus und führt uns in den innersten Raum intimer Zwiesprache mit dem „Selbst“. Wer dort angekommen ist und sein Verbundenheit mit Allem erfahren hat, wird der Welt vielleicht gar nicht mehr entfliehen wollen, sondern den Wunsch verspüren, sich liebend, leidend, mitfühlend und helfend in sie hinein zu verströmen. Ein solcher Mensch wäre wahrscheinlich ein sehr guter „Politiker“, denn er wäre nicht mehr so leicht manipulierbar, blendbar, erpressbar. Er hätte ja das Eigentliche gefunden hat, an dem gemessen jedes Surrogat blass erscheint, mag es nun um Macht oder Mandate gehen, um Privatjet, Pressepräsenz oder Politbarometer – oder um das zufriedene Zunicken von Börsianern, Lobbyisten und Konzernchefs, die einem bescheinigen, wie brav wir wieder mal Wachstum, Profit und Ordnung hoch gehalten haben. Wer dem „Herrn“ lieber dient als dem „Mammon“ und „Gott“ mehr gehorcht als den Menschen, wer diesen „Herrn“überdies als einen inneren Gott begreift, der als leise, aber vernehmliche Stimme in unserem Herzen zu uns spricht, der könnte sich als ein höchst unbequemer, anarchischer, jenseits vordergründiger Sachzwänge freier Zeitgenosse erweisen. Die alte Ordnung müsste sich in Acht nehmen vor solchen „Polit-Spirituellen“, sie hätten mit den domestizierten Kirchenschäflein, die – Paulus zufolge – „der Obrigkeit untertan“ sein müssen, nicht mehr viel gemein.


Lohnt sich da für diejenigen politisch Aktiven, die mit der Spiritualität nichts am Hut haben, nicht ein zweiter Blick? Man „muss“ als Linker natürlich nicht spirituell sein, aber es wäre schon viel gewonnen, wenn eine anti-spirituelle Haltung nicht mehr automatisch als zur mentalen Grundausstattung der „modern“ und „sozial“ Denkenden gehörig betrachtet würde. Ich halte mich da an Joanna Macy. Nach ihrer Meinung ist es von enormer Bedeutung, „die herkömmlichen Paradigmen loszulassen, wonach die Welt entweder ein Schlachtfeld mit den Siegen einzelner ist oder eine Falle, der wir mit der ersehnten Erleuchtung entfliehen sollten.“