«Wer sich mächtigen Interessen widersetzet, wird systematisch ermordet»

Die kürzliche Ermordung eines Präsidentschaftskandidaten in Ecuador ist nur die Spitze des Eisbergs. Wer sich in Lateinamerika zu heiklen Themen äussert, exponiert sich oft in einem Ausmass, das lebensbedrohlich werden kann. Aus der Serie «Nachrichten aus Lateinamerika».

Menschenrechtsverteidiger leben in Lateinamerika gefährlich. / © Global Witness

Am 9. August wurde der Journalist Fernando Villavicencio getötet, der für die Präsidentschaftswahlen in Ecuador kandidierte. Ihm wurde mehrmals in den Kopf geschossen, als er nach einer Wahlveranstaltung in der Hauptstadt Quito in sein Auto einstieg. Ganz unerwartet kam das Attentat jedoch nicht: Villavicencio hatte in den Vortagen Drohungen erhalten, die dem Drogenkartell «Los Choneros» zugeschrieben werden.

Villavicencio hatte sich sowohl in seiner Zeit als Investigativjournalist als auch während seiner politischen Laufbahn immer wieder gegen Mafia-Banden ausgesprochen und kritisiert, dass deren Bosse zu viel Macht über staatliche Institutionen im Land hätten. Insbesondere beschuldigte er mehrere Politiker, die mit dem ehemaligen Präsidenten Rafael Correa in Verbindung standen, in Drogenhandel und Korruption verwickelt zu sein.

Die Washington Post wies darauf hin, dass die Ermordung Villavicencios nur die Spitze des Eisbergs darstellt, da die Zahl der Gewaltverbrechen durch kriminelle Banden in Ecuador deutlich angestiegen ist. Allein dieses Jahr wurden mehr als 250 Verbrechen dieser Art verübt und mehrere Politiker ermordet – unter anderem Kandidaten für Bürgermeisterämter oder Parlamentssitze.

Leider steht Ecuador mit dieser traurigen Statistik aber nicht allein da. In den meisten Ländern Lateinamerikas lebt es sich gefährlich, wenn man sich öffentlich zu heiklen Themen positioniert. Ganz abgesehen von Menschen, die Korruption und Drogenhandel anprangern, sind vor allem auch Umwelt- und Menschenrechtsverteidiger einem hohen Risiko ausgesetzt. Dies zeigt auch der kürzlich erschienene Jahresbericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Global Witness, die Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt dokumentiert, insbesondere im Zusammenhang mit dem Öl-, Gas-, Bergbau- und Holzsektor.

Der Bericht hält fest, dass seit 2012 weltweit 1910 Personen getötet wurden, weil sie sich für Umwelt- und Menschenrechte eingesetzt haben. Allein fürs Jahr 2022 wurden 177 Fälle dokumentiert, wobei keine Garantie für die Vollständigkeit der Daten vorliegt.

Als besonders besorgniserregend wird die Situation in Lateinamerika bezeichnet, wo 70 Prozent der Morde verzeichnet wurden. An der Spitze der Liste steht Kolumbien, gefolgt von Brasilien und Mexiko. Dabei gilt die Situation in der Amazonasregion als besonders kritisch – seit 2014 wurden hier 296 Todesfälle registriert. «Der Amazonas ist der Lebensraum von Millionen von Tier- und Pflanzenarten, ausserdem Heimat von mehr als 500 indigenen Völkern», betont Global Witness.

«Die Indigenen in ihrer Rolle als Hüter des Waldes an vorderster Front bei der verheerenden Ausbeutung des Amazonasgebiets. Sie sind mit gefährlichen Unternehmen konfrontiert, die ungestraft handeln, sowie mit rücksichtslosen staatlichen Sicherheitskräften. Wenn sie sich den mächtigen Interessen der Agrarindustrie, des Bergbaus und des Holzeinschlags widersetzen, werden sie eingeschüchtert, kriminalisiert, angegriffen und systematisch ermordet. Indigene Gemeinschaften werden überproportional häufig zur Zielscheibe. Doch Übergriffe im Amazonasgebiet werden nur selten geahndet, und es herrscht Straflosigkeit.»

Als Antwort auf die prekäre Situation von Menschenrechts- und Umweltverteidigern in Lateinamerika wurde 2018 das Abkommen von Escazú erarbeitet, welches das Recht auf Zugang zu Informationen über die Umwelt festlegt und Massnahmen definiert, um die Zivilgesellschaft an Umweltentscheidungen zu beteiligen. Das Abkommen, das von 25 Staaten unterzeichnet wurde, behandelt auch Fragen der Umweltgerechtigkeit sowie spezifische Bestimmungen zur Sicherheit von Umweltschützern. Unter anderem soll das Recht garantiert werden, in Umweltangelegenheiten Zugang zu Gerichten zu haben. Die Staaten müssen gewährleisten, dass ordnungsgemäße Verfahren durchgeführt werden. Dadurch soll die bestehende rechtliche und institutionelle Asymmetrie in der Region beseitigt werden. Ob das Abkommen Früchte trägt, bleibt abzuwarten.

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