«Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen.»

Was bedeutet dieses afrikanische Sprichwort?

(Illustration: Rod Long / unsplash.com)

Der oben zitierte Satz aus Afrika beschäftigt mich schon viele Jahre. Erst als mir 2018 das Buch von Mariam Irene Tazi-Preve, "Das Versagen der Kleinfamilie — Kapitalismus, Liebe und der Staat", in die Hände fiel, ging mir beim Lesen ein Licht dazu auf: Unsere romantische Vorstellung einer liebevollen Familie, hervorgegangen aus einem Liebespaar, das Kinder in die Welt bringt und diese liebevoll grosszieht, ist in unseren patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in der Realität nur in ganz wenigen Ausnahmesituationen wirklich möglich.

Im Hamsterrad unserer kapitalistisch-materiellen Ansprüche und dem darin herrschenden Leistungsdruck sind die Menschen an sich schon überlastet. Neben der Belastung auf der Karriereleiter und im Beruf kommen die gegenseitigen Ansprüche an den/die Partner/in, wie z.B.: liebevolle und befriedigende Sexualität; Verständnis haben und Ratgeber sein bei inneren und äusseren Problemen; manchmal auch die Rolle der Mutter/ des Vaters einnehmen; echter Freund sein, u.v.m. — Wenn dann die elterlichen Pflichten der Versorgung von Kindern dazu kommt, ist der Kipp zur Überforderung nicht mehr weit — meistens ist es die Überforderung der Mütter! 

Ganz anders war das früher in matriarchalen Gesellschaften, z.B. in einem Dorf — die es auch heute noch in einer kleinen Zahl in Asien, Amerika und Asien gibt. Dr. Heide Göttner-Abendroth, Begründerin der modernen Matriarchatsforschung, hat einige von ihnen besucht und weitere archäologische Quellen erforscht.
 
In Matriarchaten gibt es keine institutionalisierte Hierarchien. Es sind egalitäre Gesellschaften, «Gesellschaften in Balance“» Im Mittelpunkt stehen hier die Mütter und Kinder als Weiterträger des Lebens. «Mütter» sind alle Frauen des Dorfes und kümmern sich gemeinsam um das Wohl der Kinder. Alle Bewohner fühlen sich verantwortlich für alle Kinder. Was für eine Entlastung für die Eltern!
 
Und alle Älteren sind den Jüngeren «Lehrer». Kinder lernen das, was sie wirklich interessiert und wofür sie Begabung haben, von den Menschen aus der Gemeinschaft, die genau das weitergeben wollen und können. So entwickeln sie sich zu Menschen, die ihr Leben vollumfänglich selbst in die Hand nehmen können und wahrhaft «lebenstauglich» sind. Mit diesem Hintergrund kann Gerald Hüther in seinem gleichnamigen Buch sehr wohl behaupten: «Jedes Kind ist hochbegabt».
 
In unserer „zivilisierten“ Gesellschaft gibt es inzwischen steigende Tendenzen nach einem Ausstieg aus dem bestehenden Schulsystem, und die Forderung nach freiem Lernen wird immer lauter. Auch existieren schon einige Freie Schulen oder Sudbury Schulen
Neben Gerald Hüther gibt es andere bekannte Persönlichkeiten, die sich für neue Lernorte einsetzen, u.a.:
  
  • André Stern, Sohn des bekannten Pädagogen Arno Stern, zeigt neue Wege der Bildung und Erziehung ohne die klassische Institution Schule auf.
  • Ricardo Leppe, Bildungsexperte und Lerntrainer, setzt sich für ein kindgerechtes Bildungssystem ein, in dem die natürliche Freude am Lernen im Kind erhalten bleibt.
 
Das alles gehört zu dem grossen Wandel der bestehenden Gesellschaft — dieser kann nur von unten, von der Wurzel her kommen. Die Mächtigen der Welt haben kein Interesse daran, allen Menschen gleiche Rechte zuzugestehen …  
 
Zu den neuen Strukturen in einer egalitären Gesellschaft gehören auch Gemeinschaften in den verschiedensten Formen. Ein Ausstieg aus den alten Strukturen gelingt nur gemeinsam, wenn wir gemeinsam „Nein“ sagen, gemeinsam zivilen Ungehorsam wagen, den schon 1970 Hannah Arendt anregte und begründete. Und auch dieser beginnt mit unseren Gedanken.

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Eva Maria Gent (*1951) lebt in Kassel und ist Heilpraktikerin und Homöopathin. Sie ist Ko-Vorsitzende der «Gesellschaft in Balance e.V.», die die «Charta Demokratiekonferenz» entwickelt hat. eva-maria-gent.de