ESM-Entscheid des Bundesverfassungsgerichts: Das Fass ist grösser geworden

«Ein guter Tag für Deutschland» ist für Angela Merkel die Ablehnung der Verfassungsklage gegen die deutsche Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Warum, das bleibt ihr Geheimnis. Immerhin muss Deutschland jetzt bis zu 190 Milliarden Euro zahlen, damit Staaten gerettet werden können, die gemäss geltendem EU-Recht so gar nicht gerettet werden dürften. Und immerhin bezeichnete Andreas Vosskühle, Vorsitzender des zweiten Senats des deutschen Bundesverfassungsgerichts die Klage von rund 37’000 Bundesbürgerinnen und -bürgern heute als «überwiegend begründet». Das war ein klassischer Freudscher, den er umgehend mit rotem Kopf korrigierte. Aber natürlich hatte er Recht.

Denn der ESM-Vertrag impliziert u.a. klar und deutlich eine (verbotene) Beschränkung des Haushaltsrechts des deutschen Bundestags. Auf Beschluss seines Gouverneursrats (der Finanzminister) kann der ESM eigenmächtig sein Stammkapital erhöhen und den beteiligten Staaten entsprechende Milliardenrechnungen präsentieren – ohne Rekursmöglichkeit.
Diese Ermächtigung darf  nicht ohne Einwilligung des deutschen Vertreters im Gouverneursrat erfolgen, das hat das Bundesverfassungsgericht heute unterstrichen. Das steht aber bereits im ESM-Vertrag. Unsere Rechtsordnung muss schon sehr unordentlich geworden sein, wenn ein hohes Gericht ausdrücklich befindet, eine bestimmte Rechtsvorschrift müsse auch tatsächlich angewandt werden. Implizit heisst das: Die anderen kann man getrost vergessen.

Gleichzeitig interpretiert das Bundesverfassungsgericht die Bestimmungen im ESM-Vertrag über die Schweigepflicht und die Immunität der deutschen Vertreter im ESM so, dass sie «nicht der umfassenden Unterrichtung des Bundestags und des Bundesrats entgegensteht», bzw. entgegenstehen. Daraus für Kapitalerhöhungen und andere weitreichende Entscheidungen eine Bewilligungspflicht durch den Bundestag abzuleiten, wie dies verschiedene Medien heute tun, ist hanebüchen. Alles, was entschieden wurde, ist: Der Finanzminister als Mitglied des Gouverneursrates kann beschliessen, und man muss den Bundestag informieren können, ob vorher oder nachher oder überhaupt ist nicht festgehalten.

Das hohe Gericht hat die Verfassungsklage gegen den ESM also vollumfänglich abgewiesen. Etwas anderes war nicht zu erwarten. Die Folgen für den Euro, für Europa und die ökonomisierte Welt wären zu gross gewesen, als dass das Gericht anders hätte entscheiden dürfen. So viel Gewalt kann sich auch ein höchstes Gericht nicht zumuten. Die Finanzkrise müssen Politik, Banken und wir alle lösen, nicht ein Gericht.

Natürlich hätte es anders entscheiden müssen. Und nachdem sich das Gericht ausserordentlich viel Zeit für einen Entscheid ausbedungen hatte, bestanden berechtigte Hoffnungen auf ein differenzierteres Urteil. Es hätte zum Beispiel für Kapitalerhöhungen ausdrücklich einen Bundestagsentscheid fordern können anstatt sich mit der Zustimmung des Finanzministers zufrieden zu geben. Ein gewähltes Parlament und ein ernannter Minister sind immerhin sehr unterschiedlich legitimiert und haben auch sehr unterschiedliche Kompetenzen. Die Kompetenzen des Finanzministers nun durch ein noch zu schaffendes Gesetz zu erweitern, ist keine Lösung.

Mit dem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts können die seit vier Jahren laufenden Rettungsmassnahmen im Finanzsektor auf einer neuen Ebene weitergeführt werden. Die Erfahrung zeigt: Sie werden die Probleme verlagern und verschärfen. Man kann nicht Schulden mit noch mehr Schulden aus der Welt schaffen. Mussten vor vier Jahren private Banken von den Staaten gerettet werden, müssen jetzt die Staaten von Staatengemeinschaften und Zentralbanken gerettet werden. Und am Ende bürgen wir, die Bürger.
Die Kompetenzverlagerung in zwischenstaatliche Körperschaften wird die demokratische Einflussnahme erschweren und den Frust der Steuerzahler verstärken. Einmal wird auch dieses Fass überlaufen. Dann wären wir froh, die Richter in Karlsruhe hätten sein Fassungsvermögen früher eingeschränkt.


Die Verlesung des Urteils im Video


Stellungnahme des Vereins «Mehr Demokratie» und Übersicht über Medienberichte:
http://www.mehr-demokratie.de/6986.html?&;tx_ttnews%5BbackPid%5D=5859&tx_ttnews%5Btt_news%5D=12776&cHash=7782ec64c266e36b0370e145dd0bdc83



Die Piratenpartei will ab heute 16 vertrauliche ESM-Dokumente veröffentlichen.