Falsch, aber richtig!
Vielleicht sind wir schon zu weit auf dem «richtigen» Weg vorangeschritten, um zu erkennen, dass es der falsche ist.
Menschen mit Fehlern sind ein Glück für die Menschheit. Als der schottische Arzt Alexander Fleming im August 1928 in die Ferien fuhr, stapelte er seine Kulturen mit Staphylokokken in der Eile auf einem Gestell in der Ecke seines Labors im St. Mary’s Hospital in London, anstatt sie ordentlich zu versorgen. Bei seiner Rückkehr am 3. September bemerkte er in einer der Schalen einen Pilz, der die Staphylokokken offenbar zerstörte. Das war die Entdeckung des Penicillins, des ersten Antibiotikums. Es revolutionierte die Medizin und rettete Hunderten Millionen Menschen das Leben. Fleming war auf der Spur eines medizinischen Irrtums, den er als Militärarzt auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs entdeckt hatte. Er hatte festgestellt, dass die Desinfektionsmittel, mit denen die Wunden an der Oberfläche behandelt wurden, die Infektionen oftmals gefährlicher machten. Sein Bericht blieb jedoch ohne Folgen.
Flemings Fehler ist bei Weitem nicht der einzige, der die Welt weiterbrachte. Eine ganze Reihe Erfindungen gehen auf Irrtümer und Missgeschicke zurück.
Charles Goodyear vergass eine Mischung von Gummi und Schwefel auf dem Ofen und entdeckte so die Vulkanisierung, mit der Gummi zu einem industriell nutzbaren Massenprodukt wurde.
John Wesley Hyatt beteiligte sich an einem Wettbewerb für den Ersatz von Elfenbein in Billardkugeln. Er verschüttete eine Flasche Kollodium und erfand so 1869 Zelluloid, den ersten kommerziell erfolgreichen Kunststoff.
Percy Spencer erforschte neue Radartechnologien in einer Vakuumröhre und stellte fest, dass ein Schokoriegel in seinem Sakko schmolz. Anstatt sich zu ärgern, erfand er den Mikrowellenofen.
Ein Ingenieur von Canon legte irrtümlicherweise sein Bügeleisen auf einen Kugelschreiber. Aus der Beobachtung der herausspritzenden Tinte entwickelte er den Tintenstrahldrucker.
Fehler können auch gut für das Gehirn sein. Dies hat Jason S. Moser, Professor für Psychologie an der Michigan State University im Jahr 2011 anhand neurologischer Experimente nachgewiesen. Dabei wurden den Probanden während einfacher Aufgaben, die leicht zu Fehlern führten, die Gehirnströme gemessen. Bei den Versuchsteilnehmern mit hoher Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, wurde eine deutlich höhere Aktivität der Synapsen gemessen, als bei jenen, die Fehler verhindern wollten und sich leicht entmutigen liessen. Hier verbindet sich die Wissenschaft mit der Volksweisheit, nach der man durch Schaden klug wird. Bedingung ist allerdings die Bereitschaft, Fehler zuzulassen, sie zu erkennen und aus ihnen zu lernen – eine fundamentale Komponente menschlicher Entwicklung.
Bedingung des Lernens ist die Bereitschaft, Fehler zuzulassen und sie zu erkennen – eine fundamentale Komponente menschlicher Entwicklung.
In einer anderen Studie stellte Gabriele Steuer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologie der Universität Augsburg fest, dass die Produktivität in fehlertoleranten Schulklassen signifikant höher liegt.
Was geschieht, wenn wir nicht aus Fehlern lernen, zum Beispiel, wenn sie mit Sanktionen verbunden oder sogar verboten sind? Die versteckten Fehler schaukeln sich zu einem Ausmass auf, dessen Schaden so gross ist, dass er uns als Individuen und als Kollektiv buchstäblich dazu zwingt, daraus zu lernen. Das ist der Weg, den die moderne, auf Sicherheit fixierte Gesellschaft gewählt hat. Die Instrumente zur Analyse liefert die Wissenschaft. Nur produziert diese längst keine Wahrheiten mehr, sondern Wahrscheinlichkeiten. Die Arbeitshypothesen werden in Experimenten geprüft und statistisch ausgewertet. Dabei sind die Fallgruben tief und zahlreich: Experimente sind synthetische Realitäten, nicht die Wirklichkeit. Jason Mosers erwähntes Experiment (dessen Ergebnis ich deswegen nicht infrage stellen möchte) wäre vielleicht anders ausgefallen, hätten die Probanden statt belangloser Aufgaben echte Herausforderungen bestehen müssen, wie sie im Leben immer wieder vorkommen. Vielleicht aber auch nicht.
Die zweite Fallgrube ist die Reproduzierbarkeit. Im August 2015 publizierte das renommierte Science-Magazin eine Analyse von hundert Studien aus drei angesehenen psychologischen Fachzeitschriften. Fazit: Nur bei knapp der Hälfte der Untersuchungen konnten die Ergebnisse mit ähnlicher Signifikanz wiederholt werden. Die Autoren schreiben in der Zusammenfassung: «Wissenschaftlichen Behauptungen sollte nicht aufgrund des Status oder der Autorität ihrer Urheber geglaubt werden, sondern aufgrund der Wiederholbarkeit der dahinterstehenden Beweise. Sogar wissenschaftliche Arbeiten von exemplarischer Qualität können aufgrund zufälliger oder systematischer Irrtümer zu nicht reproduzierbaren empirischen Resultaten führen.»
Auch an den kleinen Schalthebelchen darf kein freier Mensch mehr sitzen, sondern einer, der die Normen von Richtig und Falsch verinnerlicht hat.
In metaphysisches Nachdenken sollte uns schliesslich die Tatsache versetzen, dass seit den Erkenntnissen der Quantenphysik sogar die Grundlage der physischen Erscheinungen eine Frage der Wahrscheinlichkeit ist. Ob sich ein Quant so oder so verhält, kann die Physik nicht mehr eindeutig feststellen. «Materie und Energie treten erst sekundär in Erscheinung – gewissermassen als geronnener, erstarrter Geist», sagte der deutsche Kernphysiker Hans-Peter Dürr.
Die dritte Fallgrube ist das statistische Ergebnis an sich. Zwischen wahr und wahrscheinlich besteht ein fundamentaler Unterschied. Wenn die Wissenschaft sagt, dass Reichtum die Hilfsbereitschaft schwächt, heisst dies noch lange nicht, dass jeder Reiche ein Egoist ist. Wenn aber statistische Wahrscheinlichkeiten zu politischen Normen werden, wird dies von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern als Bevormundung empfunden und Widerstand ausgelöst. Besonders ärgerlich ist dies, wenn solche Normen, die auf weicher Wissenschaft basieren, willkürlich angewandt werden. Beispiel Elektrosmog: Während die von den Mobilfunkkonzernen gesponserten Studien die Unbedenklichkeit der elektromagnetischen Strahlung «beweisen», kommen allein von der öffentlichen Hand finanzierte Untersuchungen zu einem gegenteiligen Ergebnis.
Dann gibt es wichtige Gebiete, in denen die Statistik geradezu missbräuchlich eingesetzt wird, zum Beispiel in der Beurteilung der Sicherheit von Wertpapieren – ein entscheidender Faktor für alle, die im Alter von Kapitalrenten abhängig sind. Der französische Mathematiker Benoît Mandelbrot, der den Nobelpreis verdient hätte und nicht einmal Professor wurde, und später der Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb mit seinem «Schwarzen Schwan» haben eindringlich vor den mathematischen Mängeln gewarnt, die den Sicherheitsberechnungen von Finanzprodukten zugrunde liegen. Nach diesen hätte ein Ereignis wie der Börsenkrach vom 19. Oktober 1987 nur alle paar Millionen Jahre einmal vorkommen können. Ob wir unser Geld in Form von Renten zurückerhalten, ist also bestenfalls wahrscheinlich – oder eben doch eher unwahrscheinlich.
Was tun mit der Dummheit des Menschen? Sie zum Erfolg erklären, wie dies der Physiker und Industriemanager Emil Kowalski in seinem jüngst erschienenen Buch «Dummheit – eine Erfolgsgeschichte» (2017) tut? Das Charakteristikum der Moderne sei die «Dominanz der Ignoranz», schreibt er. Und: «Die Gesellschaft hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit den Begrenzungen der kognitiven Fähigkeiten des Menschen zu leben. Man kann erstens versuchen, alle, zumindest eine weit überwiegende Mehrheit der Menschen wissend zu machen, intelligent, gebildet, klar denkend, die Zusammenhänge überblickend, von Vorurteilen und Aberglauben frei, mit einem Wort: vollkommen. … Und man kann sich zweitens mit der Dummheit, Beschränktheit des Denkvermögens, Willensschwäche, ja mit den anscheinend unvermeidlichen moralischen Defekten des Menschen abfinden, damit rechnen und eine Wissens- und Gesellschaftsordnung schaffen, welche mit diesem realistischen Menschenbild funktioniert.» Emil Kowalski hält den zweiten Weg nicht nur für den besseren. Es sei geradezu die «Fähigkeit, Strategien zur Beherrschung der Dummheit des Menschen zu entwickeln, welche den Westen so erfolgreich gemacht hat und immer noch macht». Die Eliten, Zentralkomitees, die grauen Eminenzen und die Intellektuellen, von denen man kluge Einsichten erwarte, seien «erst dann weise, wenn sie realisieren, dass auch sie die absolute Wahrheit nicht gepachtet haben und nie haben werden». Genau! Aber dieselben Eliten decken die Menschheit mit absoluten, alternativlosen Sachzwängen zu, die zu einer biblischen Flut von Vorschriften führen und den freien Menschen entweder zum Funktionsträger ihrer Megamaschine (mehr dazu im gleichnamigen Buch von Fabian Scheidler) oder zu ihrem hilflosen Opfer degradieren. Das ist das Resultat unserer kollektiven Dummheit, die im Wesentlichen daraus besteht, es nicht nur richtig machen zu wollen, sondern auch zu meinen, es richtig zu machen.
Die Dinge richtig zu machen, ist zu einer Überlebensfrage geworden. Fehler sind in immer mehr Bereichen geradezu verboten: im Flugverkehr, bei der Atomtechnologie, in der Gentechnik, in der Agrochemie und zahlreichen anderen Gebieten. Die Zivilisation als Ganzes ist äusserst zerbrechlich und fehlerintolerant geworden. Die absolute Pflicht, Fehler zu vermeiden und ja das Richtige zu tun, durchzieht unsere Gesellschaft von der Kita bis zum Exit. Die Schulen sind nicht mehr Orte, an denen man für das Leben lernt und folglich Fehler begehen soll, sondern um Standards zu erfüllen. An Universitäten wird nicht mehr frei geforscht und gelehrt, sondern normiert und bewertet. Dafür gibt es gute Gründe. Die Welt ist so fragil, dass kleine Fehler verheerende Konsequenzen haben können. Auch an den kleinen Schalthebelchen darf kein freier Mensch mehr sitzen, sondern einer, der die Normen von Richtig und Falsch verinnerlicht hat. Zum Glück, so meinen viele, kommt uns jetzt die grossmächtige Digitalisierung zuhilfe, die alles misst, kontrolliert und steuert, vom sprechenden Kühlschrank über die Fake News bis zur frühzeitigen Identifizierung von Missetätern (diejenigen auf der Teppichetage natürlich ausgeschlossen). Aber ich zweifle, ob der «Grosse Bruder» dieser Herkulesarbeit gewachsen ist. Denn auch er wird programmiert von Menschen, die keine Irrtümer begehen dürfen und deren Hirnleistung hinter der von Fehlertoleranzen zurückbleibt.
In dieser ausweglosen Situation kommen wir nicht umhin, auf die Philosophie zurückzugreifen, die Weisheit des Lebens und die Grundlage der Erkenntnis – oder sogar noch etwas weiter zurückzugehen. Die Vertreibung aus dem Garten Eden gehört wohl zu den ältesten Weisheitsmythen der Menschheit. Begonnen hat der jähe Sturz aus dem zeitlosen Glück des Paradieses mit dem Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis – zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch. Die Verheissung ist tatsächlich betörend: von vornherein zu wissen, was sich als richtig oder falsch erweisen würde. Dieser Verlockung erliegt man auch heute – und mehr denn je.
In einer Welt, die eine derart falsche Richtung eingeschlagen hat, können nur noch der innere Kompass und der höhere Sinn die Richtung weisen.
Aber die Frucht ist giftig. Warum? Das Urteil über gut und böse zementiert die Verhältnisse: Wir begegnen dem Feind als Feind und erschweren ihm und vor allem uns die Versöhnung. Die Unterscheidung in Richtig und Falsch zieht uns aus der Gegenwart und drängt uns in die Vergangenheit und in die Zukunft. Was richtig ist oder falsch, erkennen wir erst in der Rückschau. Es ist unklug, aus den Spekulationen über die Zukunft absolute Schlüsse zu ziehen. Denn einerseits ist die Zukunft keine lineare Fortsetzung der Vergangenheit und andererseits verbauen wir uns in dem Bestreben, es richtig zu machen, die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen.
Die Konsequenzen dieses Strebens sind durchaus unerfreulich, wie Rüdiger Safranski in «Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?» (1998, S. 126) schreibt: «Der Baum des Wissens ist kein Baum des Lebens.» Die Geschichte der Metaphysik, aber auch die der Wissenschaft, sei eine Geschichte des falschen Suchens, die das Leben seiner Spontaneität, seiner Kraft und seines Gestaltungswillens beraubt habe – durch Unterwerfung unter eine sezierende Realität und die Vernunftprinzipien der Moral. «Die gesamte Geschichte des Wissenwollens, so sieht es die Lebensphilosophie, hat vom Naheliegenden – eben vom ‹Leben› – abgelenkt. Der Wille zur Erkenntnis lässt die Menschen zu Zaungästen des Lebens werden. Man hat die Dinge begreifen wollen, statt nach ihnen zu greifen, sie zu spüren, sie in ihrer Einmaligkeit zu sehen. Man hat den Geist in die Vergangenheit und in die Zukunft geschickt, statt ihn sich der Gegenwart hingeben zu lassen. Wir haben versäumt, behauptet die Lebensphilosophie, für das Jetzt, für den Augenblick eine genussfähige Geistesgegenwart zu entwickeln.»
Trotz allem wollen wir Wahrheit, wir haben sogar die menschliche Pflicht, danach zu streben. Aber es kann nicht die Wahrheit der Autoritäten, der Normen und der Moral sein, sondern nur die innere Wahrheit. «Man kann sich wohl in einer Idee irren, man kann sich aber nicht mit dem Herzen irren», schrieb Dostojewski. In einer Welt, die eine derart falsche Richtung eingeschlagen hat, können nur noch der innere Kompass und der höhere Sinn die Richtung weisen. Es ist ein hoher Anspruch an das Individuum: seiner eigenen Wahrheit zu folgen, anstatt der kollektiven Norm; einen Bogen um den Baum der Erkenntnis zwischen gut und böse zu schlagen, zu leben statt zu berechnen. Nicht später, sondern jetzt.
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