Heute anders #letztes Mal: 3 Fragen an Psychotherapeutin Dominique Grütter
Immer wieder mal ausbrechen: Dominique Grütter hilft nicht nur Menschen in ihrer Praxis, sich von festgefahrenen Strukturen zu befreien. Auch sie selbst springt immer wieder mal ganz bewusst aus der Routine des Alltags heraus. Zurzeit ist sie für zwei Monate im Graubünden als Hirtin tätig und geniesst das einfache Leben – ohne fliessendes Wasser und Strom. Nach diesen Sommerwochen wird sie nach Stans im Kanton Nidwalden zurückkehren und ihre Arbeit als Therapeutin im Bereich der Systemischen Psychotherapie wieder aufnehmen. Dieser Bereich der Psychologie interveniert in komplexe menschliche Beziehungen, die sich eingespielt haben, für Betroffene belastend sind und die alleine schwer zu durchbrechen sind, sagt sie am Telefon von der Alp aus.
Zeitpunkt: Wie bricht man im Kleinen aus? Etwa im Alltag, wo man doch meist in der Routine herumhangelt. Und was macht das mit einem, wenn man ausbricht?
Dominique Grütter: Im Alltag gibt es viele kleine Dinge, die man anders machen könnte. Das fängt doch schon beim Morgenessen an: Wenn ich aufstehe, meine ich zum Beispiel, ich müsse unbedingt einen Kaffee haben und dann um zehn Uhr etwas essen. Aber wieso nicht mal einen Tee trinken oder statt etwas zu trinken, erst Yoga machen? Aber klar, Routine und Struktur geben den Menschen Sicherheit, und das ist gut so. Und gerade am Morgen zelebrieren die Leute die rituellen Abläufe sehr. Denn zu dieser Tageszeit redet einem in der Regel noch niemand rein, man arbeitet ja auch noch nicht. Routine und Struktur können aber auch etwas Starres haben, das einen einschränkt, weil man die Kontrolle nicht verlieren will. Der Mensch tendiert nunmal dazu, Dinge zu kontrollieren, die er kann.
Aus der Routine ausbrechen, fängt meist damit an, dass man sich Fragen stellt. Stimmt es, dass ich nicht wach werde ohne Kaffee? Was passiert mit mir, wenn ich mal etwas anders mache? Ausbrechen hat mit Experimentieren zu tun, mit der Lust, etwas Neues zu entdecken. Tut man es, löst es eine Selbstwirksamkeit aus: «Ah, ich bin fähig, etwas Anderes zu machen, und es fühlt sich gut an – oder auch nicht.» Kurzum: Man fühlt sich lebendig, wenn man ausbricht, ebenso bei den ganz kleinen Sachen im Alltag. So könnte man für einmal nach der Arbeit einen anderen Nachhauseweg wählen und in der Mittagspause spazieren oder joggen gehen, statt mit den Kollegen in die Kantine. Ja, zeitweise braucht es sogar ein bisschen Mut und Risikobereitschaft auszubrechen, weil man sich möglicherweise beim Umfeld erklären muss. Aber es macht das Leben auf jeden Fall reicher.
Weiter kann es Dinge im Leben von Menschen geben, die man schon als problematische festgefahrene Strukturen bezeichnen könnte, etwa in Paarbeziehungen oder Familien. Wie bricht man da aus?
Ein Beispiel dazu: Eine Schwiegermutter will jedes Mal, wenn sie in die Wohnung meiner 30-jährigen Patientin kommt, die Küche aufräumen. Die junge Frau will das aber nicht. Da ist natürlich auch ein Generationenkonflikt, beide haben eine andere Lebensauffassung, da prallen zwei Welten aufeinander. Die Schwiegermutter war immer Hausfrau und Mutter, und ihr ist langweilig. Meine Patientin ist arbeitstätig. Nun, bei solchen schon länger andauernden festgefahrenen Muster, die übergriffig sind, hilft vor allem Kommunikation. Und zwar dass die junge Frau mitteilt, dass sie gerne Hilfe annimmt, aber dass die Schwiegermutter bitte fragt, worin sie ihr helfen soll. Oft entschehen solche wiederkehrende Situationen auch aus einem Missverständnis heraus, aber in erster Linie aus mangelnder Kommunikation. Ein anderes Beispiel: Muss man jeden Sonntag zu den Grosseltern oder Schwiegereltern essen gehen? Ein Patient antwortete mir darauf: «Aber sie sind doch sonst enttäuscht, wenn ich nicht gehe.» Bist du sicher?, frage ich dann.
Kurzum: Ein kleiner Anstoss in starren Strukturen bringt immer riesige Veränderungen. Dazu zeichne ich gerne das Bild eines Mobile, das von der Decke hängt und aus verschiedenen Teilen besteht. Wenn man einen Teil weg nimmt, müssen sich alle anderen neu platzieren, damit wieder ein Gleichgewicht hergestellt wird. Es muss also nicht immer die ganze Familie in Therapie gehen. Manchmal genügt es, dass sich ein Familienmitglied dazu entscheidet, damit sich das ganze System zu bewegen beginnt. Und um noch einen Bogen zur ersten Frage zu machen: Wenn man noch nicht bereit ist, grosse Themen Nahestenden zu kommunizieren, dann fängt man am besten an, erst im Alltag kleine Dinge anders zu machen. Denn: Das grosse Ausbrechen übt man im kleinen Ausbrechen.
Corona: War das nicht ein grosses, systemisch-psychotherapeutisches Experiment? Wir wurden alle aus der Routine herausgerissen, und nicht-erwünschenswerte Strukturen wurden sichtbar.
Ja, so kann man es nennen. Für viele Leute war die Coronakrise tatsächlich eine Chance. Als Paartherapeutin beispielsweise hatte ich viele Anfragen. Die Paare hatten plötzlich mehr gemeinsame Zeit, konnten sich nicht mehr aus dem Weg gehen und stellten daher fest, dass sie nun miteinander reden und Unstimmigkeiten in der Beziehung klären müssen. Also gingen sie die Themen, die anstanden, an. Und ja, Strukturen wurden sichtbar während Corona, etwa dass unsere Gesellschaft nach wie vor patriachalisch ist. Das zeigte sich vor allem im Homeoffice während des Lockdowns, wo die Mütter am Ende doch fast die ganze Last trugen. Denn die Väter können sich meistens besser abgrenzen und machen beim Arbeiten einfach die Tür zu, obwohl die Mutter ebenso im Homeoffice ihrer Arbeit nachgehen müsste. In der Krise kam auf jeden Fall viel ans Licht. Und das ist ja das Wichtigste. Denn erst dann kann man Lösungen suchen – und Lösungen finden heisst ja Neues wagen.
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können