«Ich bin dann mal offline»

Moderne Technik soll uns die Arbeit abnehmen, damit wir mehr Zeit für uns haben. Das Verrückte aber ist: Wie haben weniger Zeit denn je. Höchste Zeit, mal offline zu gehen.

Bunte grosse Sitzkissen an einem Strand mit einem Schild am Baum, auf dem steht, dass es hier kein WLAN gibt und die Leute stattdessen miteinander reden sollen.
«Tut so, als wäre es 1995. Redet miteinander.» (Bild: Kym Ellis on Unsplash)

Eigentlich wollte ich nur ein Buch bei Amazon bestellen. Keine grosse Sache, rein, raus und fertig. Amazon war so nett, mir Bücher zu zeigen, die mir auch noch gefallen könnten. Und am Ende blieb ich länger als geplant. So wie mir geht es vielen - und nicht nur bei Amazon: Soziale Netzwerke sind so designt, dass sie uns dazu verleiten, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen, als wir eigentlich wollten. Ständig wird uns mitgeteilt, wer dieses oder jenes gepostet oder geliked hat, wer gerade online ist, worüber man sich gerade unterhält oder welche ähnlichen Dinge wir uns auch noch ansehen könnten.

Die Sozialen Medien haben uns gut im Griff. Facebook flüstert mir, meine Kontakte hätten schon seit Tagen nichts mehr von mir gehört; LinkedIn fordert mich auf, Stephanie Sowieso zur Beförderung zu gratulieren, oder zum Geburtstag; Netflix benachrichtigt mich per Mail über neue Serien, die ich mir ansehen sollte; YouTube zeigt mir Videos, die mir bestimmt auch gefallen und spielt sie automatisch ab.

Apps und Websites kapern unseren Verstand, indem sie uns glauben machen, wir würden etwas verpassen, wenn wir sie ausschalten, Benachrichtigungen abbestellen oder einen Account löschen. «Fear of Missing Something Important», FOMSI, nennt sich dieser Zustand, den wir früher gar nicht kannten, jedenfalls nicht in dieser Form. 

Tristan Harris war mehrere Jahre lang «Design Ethicist» bei Google. Er ist Experte dafür, wie die moderne Kommunikationstechnologie unsere psychologischen Schwachstellen besetzt und ausnützt. Auf seiner Website Time Well Spent plädiert er dafür, dass unsere Zeit wieder uns gehören muss. Smartphones, Benachrichtigungen und Webbrowser müssten unsere Werte bedienen - und nicht unsere Impulse.

Offline ist das neue Bio

Es wurden unglaublich viele Dinge erfunden, die uns helfen sollen, Zeit zu sparen. Tatsächlich haben wir weniger Zeit denn je. Die langfristigen Folgen des digitalen Dauerbeschusses unseres Gehirns sind noch gar nicht abzusehen, und manche Wissenschaftler bezweifeln, dass «Digital Detox» (seit 2013 ein fester Begriff im Oxford Dictionary of English) überhaupt etwas bringt. Doch es mehren sich die Zeichen, dass ein Umdenken stattfinden könnte.

Ausgerechnet im Silicon Valley, wo die Wiegen der digitalen Lernwerkzeuge dicht an dicht stehen, verbieten immer mehr Eltern ihren Kindern den Umgang mit Smartphones und Tablets und schicken sie an Waldorfschulen. Auch bei uns gewinnt die bewusste Lebensführung an Bedeutung: Immer mehr Menschen wollen wieder selbst über ihre Zeit bestimmen.

Wie fängt man es an? Indem man beispielsweise die Benachrichtigungen abstellt, strikte Offline-Zeiten einführt und die Geräte zwischendurch abschaltet. Indem man E-Mails zu festen Zeiten checkt und nicht dazwischen. Indem man sein Handy einfach mal zu Hause «vergisst» und sich einen ganzen Tag lang ohne durchschlägt. Solche Mikro-Abenteuer machen den Kopf frei und die Seele weit.

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Taking back our lives and attention: Interview mit Tristan Harris, 22.02 Min.
Interview mit Yuval Noah Harari und Tristan Harris, 56.39 Min.