Jenseits von «Schwamm drüber» - oder: Begegnung mit einem Mörder

Seit einer Weile trage ich eine Frage mit mir: Was heisst Vergebung? Wenn ich schon keine von meinen Fehlern ungeschehen machen kann – was tue ich mit meiner Schuld, mit meiner Scham? Bei Patrick Magee und Jo Berry habe ich etwas dazu gelernt.


Vor 40 Jahren legte Patrick Magee als IRA-Kämpfer die Bombe, die Jos Vater umbrachte. Seit 24 Jahren ringen sie um Verständigung. 

Patrick oder Pat oder der «Brighton Bomber» verstand sich ursprünglich als Pazifist. Doch in seiner Heimat Belfast sah er die brutale Unterdrückung, die Aussichtsweglosigkeit und Armut in den Vororten – und keine Chance auf ein Ende. Die britische Regierung herrschte mit harter Hand und versuchte, die «Troubles» als rein lokalen Aufstand einzugrenzen. Er trat der IRA bei. Schnell stieg er in der Hierarchie auf, erhielt bald immer grössere Verantwortung – und sass auf einmal ohne Gerichtsverhandlung anderthalb Jahre im Gefängnis. Welche andere Möglichkeit als Gewalt könnte es gehen? Er sah keine.

Seine Bombe im Grand Hotel von Brighton am 12. Oktober 1984 sollte Margret Thatcher treffen. Die Premierministerin hatte Glück – nicht aber Anthony Berry: Der konservative Politiker war eines der fünf Todesopfer der Bombe von Brighton. Patrick Magee wurde gefasst, erhielt eine lebenslange Gefängnisstrafe – und wurde 14 Jahre später aufgrund des Good-Friday-Abkommens freigelassen.

In einem Interview nach dem Anschlag sagte er: «Ich bedaure zutiefst, dass irgendjemand sein Leben verlieren musste. Aber konnte die herrschende Tory-Klasse zu der Zeit erwarten, dass sie immun bleiben würde, während ihre Frontsoldaten uns das antaten?» 

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Als Jo Berrys Vater starb, war sie 27 Jahre alt. Sie hatte sich schon mit Frieden und Konfliktlösung beschäftigt, ein Jahr im Himalaya verbracht und meditiert. «Doch nichts bereitete mich auf das vor, was ich jetzt erlebte. Es war die Hölle.»

Der Schmerz und die Trauer um ihren Vater schienen sie und ihre Familie fast zu zerreissen. Als Patrick aus dem Gefängnis freikam, war Jos erster Gedanke: Der Mörder meines Vaters darf ein neues Leben anfangen, aber mein Vater wird seines nie mehr zurückbekommen. Aber ihr zweiter Gedanke war: Jetzt kann ich ihn treffen. Jetzt kann ich ihn endlich fragen: Warum hast du meinen Vater umgebracht.

Denn das wollte sie – ihn kennenlernen und verstehen. Sie brauchte das, um endlich loszulassen. «Ich wollte ihm in die Augen schauen und das Menschliche in ihm sehen – dann, so glaubte ich, wäre ich endlich befreit.»

Lange bereitete sie sich darauf vor. Sie bereiste Nordirland, sprach mit anderen Kämpfern, studierte die Geschichte des Nordirland-Konfliktes. So war sie auch auf die ersten Antworten gefasst, die Patrick ihr gab – als sie ihm durch die Vermittlung einer Bekannten endlich persönlich gegenüber sass: dem Mörder ihres Vaters.

Es waren politische Antworten – Begründungen, warum Gewaltfreiheit im Widerstandskampf manchmal nicht reicht. Es waren Belehrungen über das geschichtliche Trauma Nordirlands, über den Hunger, die Rechtlosigkeit, die Armut – und die Arroganz Grossbritanniens. Es waren Erklärungen dafür, dass er letztlich gar nicht anders hätte handeln können.

Sie hörte zu, obwohl sie am liebsten weglaufen würde. Eine Stimme in ihr schrie: Er hat deinen Vater ermordet, was tust du hier? Sie unterdrückte diese Stimme und blieb sitzen. Sie hörte zu, obwohl sie seine Argumente schon kannte – und sie auch verstand. «Und wer weiss, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich vielleicht dieselbe Entscheidung getroffen.» Sie wollte aber etwas anderes: Sie wollte, dass der Mörder ihres Vaters von ihr erfuhr, was er ihr genommen hatte. Sie wollte, dass er die Konsequenzen seiner Taten durch sie fühlte.

Patrick hatte sich erst nach langem Zögern auf das Gespräch mit der Tochter eines seiner Opfer eingelassen. Er hatte die Zeit im Gefängnis genutzt, um zu studieren und machte einen Abschluss in Philosophie und politischer Theorie. Er war nicht mehr vom Weg der Gewalt überzeugt – wohl aber von der grundlegenden Alternativlosigkeit seiner Taten – und die würde er überall vertreten. 

Jo erinnert sich: «Er erzählte mir von seinen Leuten in den Vororten, und ich erkannte, wie sehr er an seiner Gemeinde Anteil nahm, an ihrer Not, ihrem Schicksal – er wollte sie nicht mehr leiden sehen. Das war seine Motivation gewesen. Diese Anteilnahme hat mich erreicht, hat ihn für mich menschlich werden lassen.»

«Im Gespräch mit Jo geschah etwas Einzigartiges», erzählt Patrick. «Ich merkte, dass sie mir zuhörte. Sie hörte mir zu– wie mir noch nie zugehört worden war. Sie urteilte nicht. Sie wollte wirklich etwas von mir wissen. Das hat mich – endlich – entwaffnet.» Und endlich wollte er wissen: Was für ein Mensch war dein Vater? Wer ist es, den ich getötet habe?

«Ich erkannte, dass Jo ein feiner Mensch ist. Und es liegt nahe, dass sie diese feine Qualität zumindest teilweise von ihrem Vater geerbt hat. Das bedeutet, dass ich einen feinen Menschen umgebracht habe.» 

Wie kann man damit leben? Gibt es etwas, das einem diesen Schmerz der Scham und Schuld nehmen kann? Gibt es Vergebung? Was braucht es dazu? Wenn jemand dem Mörder seines Vaters vergeben kann – dann müssten wir doch davon lernen können. Wäre das dann nicht auch in anderen Konflikten der Erde möglich? Vielleicht sogar in unserem eigenen Leben – mit all den Dingen, die wir so gerne ungeschehen machen würden? Könnten wir dann nicht mit viel weniger Schuldgefühlen leben?

Die Tat, der Verlust, Schuld und Scham – all das ist im Fall von Pat und Jo zu stark, um einfach «Schwamm drüber» zu sagen. Das Gespräch hatte beide unglaublich gefodert, und eigentlich sollte es eine einmalige Sache sein. Aber dann trafen sie sich noch einmal, diesmal mit Zeugen. Und beim nächsten Mal war jemand mit einer Videokamera dabei. Inzwischen – nach 24 Jahren – sind sie rund 300 mal zusammen aufgetreten, es gibt einen Film über sie, viele Interviews und ein Buch von ihnen. 

***

«Haben Sie ihm vergeben?» frage ich Jo Berry. «Nein», antwortet sie. «Vergeben habe ich ihm nicht. Das kann ich nicht. Und das würde ja auch wieder bedeuten, dass ich mich über ihn stelle und sein Verhalten als gut oder schlecht beurteile. Ich glaube, darum geht es nicht. Aber es ist etwas Wichtigeres geschehen: Ich habe ihn verstanden. Und er hat sich für meinen Verlust geöffnet. Es ist ein Heilungsprozess für uns beide, der noch nicht abgeschlossen ist. Manchmal werde ich wahnsinnig wütend. Aber das ist meine Wut, sie gehört mir! Ich werde ihn nicht für meine Wut verantwortlich machen.»

Ich ahne, was für eine Reise die beiden zusammen gemacht haben und noch machen. Jo wird Pat nicht von seiner Schuld und Scham befreien. Pat wird Jo nicht von ihrem Schmerz und ihrer Wut befreien. Beide werden mit ihrer Wunde weiterleben müssen. Aber weil sie miteinander fühlen – mit-fühlen – und weil sie nichts überspringen, haben sich ihre Wunden in etwas gewandelt. «In Motivation», nennt Jo das. Ich nehme es als Fokussierung und Integrität wahr, als Wissen. 

 

Kommentare

ehrliches Mitteilen

von Lisa
Danke für diesen berührenden Beitrag. Grundlage und Anfang von jeder Verbesserung ist ehrliches Reden und noch wichtiger: Zuhören! Davon ist die Politik (im Allgemeinen) so weit entfernt... und es ist doch etwas so grundlegend Menschliches, meine ich. Waren es immer nur Einzelne, die so gehandelt haben? Ist es eine Fähigkeit, die die Menschheit erst noch entwickeln muss?