Ich habe nach langer Zeit wieder einmal ein Bilderbuch in die Hand genommen, das vor über hundert Jahren erschien – und zu meinem Erstaunen entdeckt, wie aktuell seine Botschaft ist. Als Kind habe ich es geliebt, doch erst jetzt wird mir klar, warum mir das Buch so gefiel. Nicht nur wegen der Bilder. Und nicht nur, weil sein Format so speziell ist. Wie ein kleines längliches Brett sieht es aus. Das Büchlein passt in kein Büchergestell. Es sperrt sich gegen die anderen Bücher. Doch seine widerspenstige Form passt zur Geschichte, die es erzählt. Und vor allem diese Geschichte bewegte mich.
Das Bilderbuch heisst «Joggeli söll ga Birli schüttle» und handelt von einem Knecht namens Joggeli, der von seinem Meister ausgeschickt wird, die Birnen zu ernten. Doch das will der Joggeli nicht. Faulenzend legt er sich unter den Birnbaum - und von selber wollen die Birnen nicht fallen. Da schickt der Herr sein Hündchen aus, es soll den Joggeli beissen. Doch der Hund will nicht beissen, Joggeli will nicht schütteln, und die Birnen wollen nicht fallen.
So geht das nun weiter. Niemand will sich dem Meister fügen. Der Herr schickt den Stecken aus, der den Hund schlagen soll. Er schickt ein Feuerchen los, das den unfolgsamen Stecken verbrennen soll. Dann befiehlt er dem Wasser, das Feuer zu löschen, dem Kälbchen, das Wasser zu trinken - und am Ende schickt er sogar noch den Metzger, um das Kälbchen zu metzgen.
Doch die von ihm Losgeschickten setzen sich alle hin und tun gar nichts. Und weil sie so nebeneinander sitzen, muss das Buch länglich sein - damit für alle der Platz reicht. Der Metzger mag das Kälbchen nicht stechen, das Kälbchen das Wasser nicht trinken, das Wasser das Feuer nicht löschen, das Feuer den Stecken nicht brennen, der Stecken das Hündlein nicht hauen - der Hund nicht den Joggeli beissen.
Und der Joggeli mag die Birnen noch immer nicht schütteln. Und die Birnen wollen noch immer nicht fallen.
Meine Grossmutter hat mir das Büchlein wieder und wieder erzählen müssen. Joggeli war mein Held. Weil er dem Herrn nicht gehorchen wollte und alle anderen seiner Gehorsamsverweigerung folgten.
Der «Herr», dem ich zu parieren hatte, das waren die Eltern. Und manchmal wollte ich mich nicht beugen. Vor allem dann nicht, wenn ich den Sinn eines Machtworts nicht einsah. Aber manchmal auch einfach so. Wenn ich Lust auf Widerspruch hatte. Lust zum Dagegen sein. Dagegen sein ist das Vorrecht der Jugend. Weil jede junge Generation die Wahrheit über das Leben selber herausfinden muss.
Das geht auch dem Joggeli so. Deshalb will er den Birnbaum nicht schütteln, wenn es der Meister sagt. Er wartet lieber, bis die Birnen von selber herunterfallen. Und da sie nicht fallen wollen, sind sie vielleicht noch nicht reif.
Ich blättere Seite um Seite um. Und komme zum Schluss der Geschichte. Ich weiss, wie sie ausgeht, ich werde es immer wissen. Der Meister will selber zum Rechten sehen, doch es gelingt ihm auch jetzt nicht. Der Metzger, das Kälbchen, das Wasser, das Feuer, der Stecken, der Hund und am meisten natürlich der Joggeli – sie lassen sich nichts befehlen. Und die Birnen bleiben am Baum.
Ich blättere also um, betrachte das letzte Bild – und stocke. Die Geschichte endet ganz anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Der Meister schwingt seine Peitsche. Er ist der Herr und droht mit Gewalt. Sein Kommando zeigt Wirkung. Der Metzger will auf einmal das Kälbchen stechen, das Kälbchen auf einmal das Wasser trinken, das Wasser will das Feuerchen löschen, das Feuerchen den Stecken verbrennen, der Stecken das Hündchen hauen, dieses will den Joggeli beissen, Joggeli will die Birnen schütteln – und die Birnen wollen jetzt fallen.
So hört das Bilderbuch wirklich auf. So hat es seit je her geendet. Die Autorität hat die Macht, und weil sie die Macht hat, hat sie das Recht, und weil sie das Recht hat, hat sie die Macht. Die Geschichte vom Joggeli war für mich immer ein Heldenepos. Das war sie nie. Der Aufstand scheitert. Am Ende unterwerfen sich alle. Kein Buch für die kommende Generation.