Kinderfrei
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Nadine ist Mitte dreissig, lebt mit ihrem Mann im Zürcher Oberland und arbeitet in leitender Position im Bereich Marketing und Kommunikation. Vor allem aber betreibt sie seit einigen Monaten zusammen mit einer Kollegin aus dem Bernbiet eine Webseite mit dem Titel: kinderfrei-leben.ch.
Nadine glaubte lange, sie wolle selber einmal Mutter werden, aber das änderte sich. Sie spürte, sie wünschte sich im Grunde kein Kind, andere Dinge in ihrem Leben – der Beruf, ihre Interessen und ihre Ehe – sind für sie wichtiger. Nadine ist dankbar dafür, dass ihr Mann ihre Haltung teilt, dass auch er keine Kinder bekommen möchte. Sie weiss von Paaren, die sich sogar getrennt haben, weil sie sich in der Frage des Kinderwunsches nicht einigen konnten.
Nun hat sie ihren Entschluss nach aussen getragen. Mit ihrer Plattform möchte sie andere Menschen ansprechen, die sich ebenfalls gegen Kinder entschieden haben und sie ermutigen, zu ihrem Entschluss zu stehen. Denn immer noch stossen Menschen, die keine Kinder möchten, in ihrem Umfeld auf Unverständnis und kritische Fragen. Das hat auch Nadine selber erlebt, doch sie möchte verstanden werden. Sie findet, es sollte gesellschaftlich akzeptiert und normal werden, dass man auf Kinder verzichten darf. Ohne dass man sich dafür rechtfertigen muss.
Sie sagt, es gibt ganz viele Mama-Blogs, ganz viele Foren und Gruppen, wo Mütter sich austauschen. Doch Angebote für Menschen, die keine Kinder wollen, gibt es fast gar nicht – und dem möchte sie Abhilfe schaffen. Sie möchte mit ihrem Forum vermitteln, dass auch ein kinderfreies Leben lebenswert sein kann.
Als ich den Bericht über Nadine las, fiel mir eine Fotografin ein, der ich vor Jahren an einer Trauung begegnete. Ich kam mit ihr ins Gespräch, sie war damals bereits um die dreissig und sie erklärte mir voller Überzeugung: «Ich möchte nie Kinder bekommen.» Ihrem Vorsatz ist sie treu geblieben, das weiss ich von ihr. Sie hat nicht so wie andere Frauen, kurz vor dem biologischen Torschluss, ihren Kinderwunsch «doch noch» bei sich entdeckt.
Es war für mich das erste Mal damals, dass ich eine Frau traf, die eine so entschiedene Haltung hatte, und es machte mich etwas traurig, dass sie so redete. Ich konnte es tatsächlich nicht ganz verstehen, dass eine Frau, die doch in ihrem eigenen Körper Leben entstehen lassen kann, diese geradezu göttliche Gabe nicht nutzen möchte.
Ich verstand es auch deshalb nicht, weil ich selber Vater bin und sehr gerne Vater bin. Natürlich gibt es auch Männer, die kinderlos bleiben, und ich frage mich auch bei ihnen: Warum wollen sie keine Väter werden? Warum möchten sie diese Erfahrung nicht machen? Aber bei Frauen, das gebe ich offen zu, begreife ich es noch weniger, weil ja die Mutterschaft wie ein Geschenk schon im weiblichen Körper angelegt ist.
Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass eine Frau ihre Erfüllung in der Mutterschaft finden muss. Aber ich denke, ein Kind bekommen ist doch etwas Schönes, auch wenn die Geburt mit Schmerzen verbunden ist, und ein Kind ins Leben hinein begleiten zu dürfen, ist doch eine wunderbare Bereicherung. Heutzutage ist eine Frau auch nicht mehr gezwungen, an der Seite eines Mannes zu leben, wenn sie Mutter werden möchte. Falls sie den richtigen Partner nicht findet, kann sie ein Kind auch allein grossziehen. Das ist sicher nicht einfach. Doch die Gesellschaft hilft ihr dabei.
Manche Frauen, die auf Kinder verzichten, argumentieren, dass sie keinem Kind zumuten möchten, in dieser schrecklichen Welt aufwachsen zu müssen. Aber für mich ist das eher ein Kopfargument, eine im Kopf zurechtgelegte, rationale Erklärung. Der Grund, warum Frauen nicht mehr selbstverständlich Kinder bekommen wollen, liegt für mich eher darin, dass sich ihr Horizont erweitert hat.
Alle Wege stehen den Frauen heute offen. An ihre traditionelle Rolle sind sie nicht mehr gefesselt. Sie müssen nicht mehr nur Frau sein, sie können ganzheitlich Mensch sein und sich als Menschen verwirklichen, unabhängig von ihrem Geschlecht. Nur weil ein weiblicher Mensch biologisch gesehen eine Frau ist, muss sie nicht zwingend ein Kind gebären. Sie darf, wenn sie will, ihre menschliche Seite stärker gewichten als ihre weibliche Seite.
Was aber habe ich damals der Fotografin geantwortet? Ich sagte zu ihr: «Wenn ich, so wie du, die Möglichkeit hätte, Leben zu schenken – ich würde es sofort wollen.» Dasselbe würde ich Nadine sagen. Ein Menschenkind auf die Welt zu bringen, wäre mir tausendmal mehr wert als ein neues Buch zu veröffentlichen. Ein Kind zu gebären wäre das grösste Kunstwerk, das ich jemals erschaffen hätte – das Grösste, das mir überhaupt je gelungen wäre.
Über den Sinn des Lebens müsste ich nicht mehr nachdenken.
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