Klara ist zum zweiten Mal verwitwet, hat vier eigene und drei «Stiefkinder» sowie eine kaum überschaubare Anzahl Enkel und Urenkel. Mittel zum Leben hat sie hingegen kaum, dafür aber ein Haus voller Wärme und Güte. Eine Hommage an meine Nachbarin.

Vor über achtzig Jahren wurde Klara in eine arme Familie auf dem Land geboren. Sie heiratete sehr jung. Das war damals üblich. Eine gute Wahl hatte sie nicht getroffen, ihr Mann trank viel, kümmerte sich wenig um seine Familie und trug das bescheidene Salär, das ihm seine Arbeit bei den Bauern einbrachte, ins Wirtshaus statt nach Hause.

Klara spricht nicht gerne darüber, doch es macht den Anschein, als betrauerte sie seinen frühen Tod nicht allzu sehr. Die junge Mutter war beliebt im Dorf und schon nach kurzer Zeit stellte sich ein neuer Heiratsaspirant ein: Fiete, ein Witwer mit drei kleinen Kindern, ebenfalls bitterarm, aber fleissig und fürsorglich, sollte ihr zweiter Mann werden. Ein gemeinsames Kind machte das Glück komplett, sie waren nun Eltern von insgesamt sieben Kindern. Finanziell kamen sie mehr schlecht als recht über die Runden, Fiete arbeitete im Torfwerk, machte sich hier und da in der Nachbarschaft für ein paar Mark nützlich oder zog Buchsbäumchen hinter dem Haus, die er für kleines Geld verkaufte.
Wenige Jahre nachdem Fiete, der eigentlich schon längst im Rentenalter war, seine Arbeit im Torfwerk aus Altersgründen aufgeben musste, lernte ich das Paar kennen. Besser gesagt, begegneten wir uns mehr oder weniger gezwungenermassen, denn ich bezog das Nachbarhaus der beiden. Getrennt sind die Grundstücke durch eine Weide, auf der damals ein Esel und zwei Ponys ihre alten Tage verbrachten. Ich werde nie vergessen, wie mich gleich am ersten Tag ein herzliches Winken aus der Ferne begrüsste.
Eine Woche später, als ich von Haus zu Haus ging, um zu meiner Einweihungsfeier zu laden, traf ich Klara zum ersten Mal. Es war ein heisser Sommertag und ohne meinen Einspruch zu akzeptieren, platzierte mich die kleine weisshaarige Frau im Schatten auf einer alten Gartenbank. Ehe ich überhaupt meine Einladung aussprechen konnte, standen eine kühle Limonade und selbstgebackener Kuchen vor mir auf dem Tisch. Dann erst setzte sie sich auf einen klapprigen Stuhl mir gegenüber. Was für strahlende, liebevolle Augen blickten mich da an! Zwar offenbarte ihr Gesicht die Spuren eines harten Lebens, aber ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes.  

Was ich damals nicht wissen konnte: Das bescheidene Fachwerkhaus, in dessen einer Hälfte Klara und Fiete lebten, war schon lange nicht mehr ihr eigenes. Sie mussten es verkaufen, um mit dem Erlös ihren Lebensabend zu sichern. Alles was ihnen blieb, war das lebenslange Wohnrecht in zwei klitzekleinen Zimmern und einer bescheidenen Küche.

Selten fühlte ich mich so reich beschenkt wie nach einem Besuch bei Klara.

Vor ein paar Jahren starb Fiete, er war lange krank gewesen. Klara wurde zum zweiten Mal Witwe. Ihre Barschaft aus dem Hausverkauf ist längst aufgebraucht, Fiete, der bis zuletzt seine Buchsbäumchen verkaufte, kann nun auch nichts mehr zum Lebensunterhalt beisteuern.
Mit einer bescheidenen Rente meistert sie jetzt ihr Leben. Und was für ein Leben! Klara ist immer heiter, ihre Augen blitzen, jeder Besucher wird von ihrem Blick warm und einladend begrüsst. Bei Klara darf keiner das Haus verlassen, ohne wenigstens eine Tasse Kaffee und etwas Selbstgebackenes probiert zu haben – egal, ob Nachbar, Lieferservice oder Briefträger. Kommt jemand unangemeldet mittags vorbei, legt sie auf dem in die Jahre gekommenen Esstisch sofort ein weiteres Gedeck auf. Vor allem hat Klara ein sicheres Gespür für die Sorgen der anderen. Dann ist sie zur Stelle, mittlerweile mit einem künstlichen Hüftgelenk und diversen altersbedingten Einschränkungen. Aber sie hilft, wo sie kann. Bei einem alten Freund renovierte sie neulich Küche und Bad, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie ein wenig «verlottert» waren. In ihrer kleinen Wohnung beherbergt sie fast täglich Gäste, Kinder, Enkel und viele Freunde aus dem Dorf kommen vorbei. Und immer strahlt Klara zwischen all dem Trubel, immer ist da diese warme Liebe, mit der sie alles umfängt.
Was sie sich für die weiteren Lebensjahre wünscht? «Die Hüfte schmerzt, das Gebiss drückt und mein Rücken tut mir weh, aber was soll ich machen?» Wirklich klagen hört man Klara nie und über Geld spricht sie nicht.

Ich kenne kein anderes Haus in einem Wohlstandsland, in dem so viel Harmonie und Güte herrschen – und in dem die Bewohner so bitterarm sind. Selten habe ich mich so reich beschenkt gefühlt, wie nach einem Besuch bei Klara. Fietes Buchsbäumchen zieren mein gesamtes Grundstück, herangewachsen zu einer prächtigen, langen Hecke. Sie werden uns alle überdauern.     

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