Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird zunehmend unterminiert. Dabei wird es von der Europäische Menschenrechtskonvention und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert. Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt die Gewissens- und Religionsfreiheit, was implizit die Verweigerung aus Gewissensgründen einschliesst.
- Die UNO-Generalversammlung erkannte in der Resolution 42/22 vom 7. Dezember 1987 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Teil der Menschenrechte an.
- Das UNO-Menschenrechtskomitee und der UNO-Menschenrechtsrat (z. B. Resolution 20/2 von 2012) haben es als Ausdruck der Gewissensfreiheit bestätigt. (Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte)
In Deutschland ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sogar in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes verankert:
„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
Obwohl diese Recht also garantiert ist und den Verweigerern in den Heimatländern grosse Strafen drohen, werden Kriegsdienstverweigerer aus Russland und der Ukraine von den europäischen Behörden abgewiesen. Die Migrationsbehörden verweigern ihnen Asyl und behaupten, die Rückkehr in ihre Herkunftsländer sei sicher.
Nach Angaben des russischen Kriegsdienstverweigerers und Friedensaktivisten Artyom Klyga sitzen Hunderte von Kriegsdienstverweigereren in Transitzonen fest.
Kriegsdienst-Verweigerung ist ein Akt des Mutes
Unter diesem Titel haben wir bereits über Artyom Klyga und Andrej Konovalow, Kriegsdienstverweigerer aus Russland und der Ukraine berichtet, die auf der Friedensdemonstration in Berlin gesprochen haben: zeitpunkt.ch/kriegsdienstverweigerung-ist-ein-akt-des-mutes
Hier die Rede von Artyom Klyga zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung:
Mein Name ist Artyom Klyga, und ich vertrete die Organisation Connection e.V.
Zunächst möchte ich Ihnen allen zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung gratulieren. Dieser Tag ist nicht nur ein symbolisches Datum. Er erinnert uns daran, dass jeder Mensch das Recht hat, den Krieg abzulehnen, „Nein“ zur Gewalt zu sagen und seinem Gewissen treu zu bleiben.
Bereits 1993 hat der UN-Menschenrechtsausschuss betont: Die Pflicht, Waffen zu tragen, kann in schwerem Konflikt mit dem Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit stehen. Und doch sehen wir, dass dieses Recht viel zu oft nur auf dem Papier existiert.
Wir erleben eine gefährliche Entwicklung. In Russland, in der Ukraine und in Belarus wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung fast vollständig missachtet. Aber seien wir ehrlich:
Auch in Europa ist dieses Recht bedroht. Wir sehen Debatten über die Wiedereinführung der Wehrpflicht, über verpflichtende militärische Registrierung, sogar über eine Ausweitung auf Frauen – alles im Namen der „nationalen Sicherheit“.
Und wenn es um diejenigen geht, die den Krieg bereits abgelehnt haben – Deserteure, Wehrdienstverweigerer, Kriegsdienstgegner – ist die Situation noch schlimmer. In ganz Europa erklären die Migrationsbehörden routinemäßig, dass für diese Menschen kein wirkliches Risiko besteht. Sie verschließen die Augen vor Verfolgung, Strafverfahren und Gefängnis.
Gleichzeitig erkennen nationale Gerichte, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die OSZE und die Vereinten Nationen diese Risiken sehr wohl an. Ihre Urteile, ihre Berichte, ihre Daten sind eindeutig. Doch die Migrationsbehörden ignorieren sie.
Und vergessen wir nicht: Selbst in Ländern wie Deutschland – und bald auch in Frankreich – werden die sogenannten humanitären Aufnahmeprogramme für gefährdete Menschen aus Russland und Belarus eingestellt. Schon zuvor waren Kriegsdienstverweigerer daraus ausgeschlossen – und jetzt verschwinden diese Programme ganz.
Wir stehen vor einer Situation, in der das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu einer bloßen Deklaration verkommt. Militarisierung, Kriegshysterie und politische Angst untergraben die grundlegenden Freiheiten. Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert, wird offen ignoriert.
Ja, es gibt Momente, auf die wir stolz sein können. 2024 konnten wir russische Deserteure aus Kasachstan nach Frankreich evakuieren und sie so vor Abschiebung retten. In Berlin hat das Verwaltungsgericht das Schutzrecht für einen russischen Wehrpflichtigen anerkannt. Diese Siege sind wichtig.
Aber seien wir ehrlich: Reicht das wirklich? Drei Jahre nach Beginn des größten Krieges in Europa gibt es immer noch kein einziges systemisches Programm zur Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern. Hunderte sitzen in Transitzonen fest, in rechtlicher Unsicherheit oder in Abschiebehaft. Viele sind bereits in der EU – und bekommen trotzdem kein Asyl.
Wenn wir diesen Weg weitergehen, wird sich Europa von dem Menschenrechtssystem entfernen, das über Jahrzehnte aufgebaut wurde. Das Recht, „Nein“ zum Krieg zu sagen, wird zu einer leeren Worthülse, ohne jede reale Bedeutung.
Aber das dürfen wir nicht zulassen. Denn Kriegsdienstverweigerung ist kein Verbrechen. Sie ist ein Akt des Mutes. Sie ist die Verteidigung der Menschenwürde.
Und heute möchte ich es klar sagen: Unsere Aufgabe – die Aufgabe der Zivilgesellschaft, der Regierungen, jedes einzelnen Menschen, der an Freiheit glaubt – besteht darin sicherzustellen, dass dieses Recht nicht unter Militarismus und Angst begraben wird.
Die Systeme existieren längst: die Genfer Konventionen, die Europäische Menschenrechtskonvention, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Es fehlt nicht an Instrumenten, sondern am politischen Willen, sie anzuwenden.
Wir werden Deserteure, Verweigerer und Geflüchtete weiterhin unterstützen. Und wir werden weiterhin fordern, dass Europa – das sich selbst als Hüter der Rechte und Freiheiten versteht – dasselbe tut.
Vielen Dank!
Artyom Klyga ist Russischer Kriegsdienstverweigerer und aktiv bei der Organisation Connection.
Rede auf Youtube:
Berlin TV: Artem Klyga und Andrii Konovalov gegen Krieg-Ukrainische/Russische Kriegsdienstverweigerer