Am 3. Oktober, dem Nationalfeiertag Deutschlands («Tag der deutschen Einheit«) hatten Pax Christi, das Netzwerk Friedenskooperative und 500 andere Gruppen zu einer zweigeteilten Friedensdemonstration aufgerufen: Nach Berlin und nach Stuttgart kamen nach eigenen Angaben zusammen 35 000 Menschen. Das Thema war angesichts der Kriegstreiberei klar: «Nie wieder kriegstüchtig! Stehen wir auf für Frieden!» In den Redebeiträgen ging es um den Rüstungswahnsinn in Deutschland und anderen NATO-Ländern, das neue Bekenntnis der EU-Länder zum Rüstungsetat von 5% des Bruttosozialproduktes, der dazu notwendigen Verschuldung und den sozialen Kahlschlag.
Die Teilnahme an Friedensdemonstrationen ist wichtig für mich. Nicht nur um zu zeigen, dass die wahnsinnige Aufrüstung in Europa nicht in meinem Namen geschieht. Sondern wegen der Begegnungen und erhellenden Momente. Zum Beispiel der Anblick relativ vieler junger Menschen diesmal. Vielleicht liegt es an Gaza: Die Empörung über den Völkermord Israels erfasst inzwischen alle Generationen.
Oder das Statement eines alten Mannes mit dem Schild: «Juden gegen Genozid». Er sagte uns (sinngemäss): «Mein Vater überlebte den Holocaust, die anderen Verwandten kamen darin um. Wie könnte ich je still bleiben bei Völkermord?»
Es gab auch Schilder, die mich inspirierten, z.B. das Transparent mit dem Aktienkurs vom grössten deutschen Kriegsgewinner Rheinmetall: Die Aktie, die vor drei Jahren noch für 80 Euro zu haben war, kostet nun anscheinend 2000.
Ein anderes Schild liess mich nachdenken: «Das System gibt es nur, so lange wir dran glauben.» Kann es wirklich sein, dass – wenn ein relevanter Teil von uns sich keine Angst und keine Feindschaft mehr einreden liesse – der ganze Spuk vorbei wäre? Ja, ich glaube, das stimmt, bleibt aber noch ein Konjunktiv. Denn noch sind wir weder traumatiefengeheilt noch immun gegen Medienlügen noch autark.
Und dann die Begegnung der beiden Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine und Russland auf der Bühne der Abschlusskundgebung. Kriegsdienstverweigerung ist laut UN-Vollversammlung von1987 ein allgemeines Menschenrecht. Doch im Krieg kann man dieses Recht, wie man bei uns sagt – in der Pfeife rauchen. Andrej Konovalov aus der Ukraine und Artyom Klyga aus Russland leben beide in Deutschland und unterstützen gemeinsam Kriegsdienstverweigerer aus ihren Ländern.
Andrej kam als Student 2021 nach Deutschland und blieb hier, als der Krieg ausbrach. Artyom ist Jurist und arbeitete seit 2018 in Russland für den Schutz der Rechte von Kriegsdienstverweigerern. Als er 2022 selbst rekrutiert werden sollte, floh er nach Usbekistan. Seit 2023 lebt er in Deutschland.
Andrej berichtete von den Anfängen der Nationalisierung in der Ukraine. «In meinem Heimatland konnte ich erleben, wie die vorher unbedeutenden Unterschiede künstlich überbewertet, instrumentalisiert und für politische Zwecke missbraucht werden. Heute sehe ich sehr deutlich, dass bewaffnete Konflikte nicht durch die Radikalisierung breiter Bevölkerungsschichten entstehen.»
Kriege entstehen durch die unverhältnismässig einflussreiche und laute Minderheit der Kriegsbefürworter, aber auch durch die Apathie und das Schweigen der Mehrheit.
«Unsere Politiker sagen, dass sie durch die Fortsetzung des Krieges unsere Freiheit schützen. Doch im Namen dieser Freiheit verbieten sie Menschen, diese Kriegsgebiete zu verlassen, und zwingen sie, am Krieg teilzunehmen. Sie sagen, mit der Verlängerung dieses Krieges schützen wir unsere Zukunft. Doch was könnte gefährlicher für unsere Zukunft sein, als ganze Völker zu entmenschlichen und mit den Risiken des atomaren Krieges zu spielen? Sie sagen, mit diesem Krieg verteidigen wir die Demokratie. Aber was könnte ein grösseres Versagen der Demokratie zu sein, als freie Wahlen abzuschaffen und das Menschenrecht, den Kriegsdienst zu verweigern, ignorieren?»
In einem aber hätten diese Politiker Recht: Die Demokratien seien wirklich weltweit bedroht. Aber diese Bedrohung entstehe durch die enorme soziale Ungleichheit, die Politik der Spaltung und die willkürliche Anwendung von Recht.
Nach offiziellen Angaben der ukrainischen Staatsanwaltschaft seien allein in den ersten sechs Monaten diesen Jahres mehr als 100 000 Ukrainer von der Armee geflohen, berichtet Andrej. Er ruft dazu auf, an deren Seite der Ukraine zu stehen und nicht an der Seite der Eliten. «Die bringen ihre eigenen Familien und Freunde in Sicherheit in Europa und in den USA und zwingen andere, in diesem Krieg ihr Leben zu opfern.»
Freiheit lasse sich nicht mit Zwang verteidigen, so Andrej weiter. Deutschland als zweitgrösster Waffenlieferant habe Hebel, die man nutzen könnte, um in der Ukraine das Unrecht der Zwangsrekrutierung zu beenden. «Aber das werden wir von unseren Politikern nicht erleben. Denn der Krieg und die Waffenlieferungen haben nichts mit Freiheit oder Demokratie zu tun. Sie haben mit den Interessen der globalistischen, euroatlantischen Eliten zu tun. Kein einziger Europäer kann sich seiner Rechte sicher sein, solange die Menschenrechte nicht für alle garantiert sind. Und keiner kann sich wirklich sicher fühlen, solange die Sicherheit nicht für alle gewährleistet ist.»
Artyom Klyga berichtete, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung werde in Russland fast völlig missachtet. «Jede Woche erreichen uns Hilferufe von Menschen aus diesen Ländern, und es wird immer schwieriger, ihnen zu helfen.» Auch in Europa sei dieses Recht bedroht, die Wehrpflicht solle in Deutschland wieder eingeführt werden, alles im Namen der nationalen Sicherheit. Artyom: «Europa gerät in diese gleiche Fälle, es sucht neue Feindbilder, so wie Russland es mit der Ukraine getan hat.»
Besonders empörend finde er, dass die Migrationsbehörden in Europa Wehrdienstverweigerer abweist. Es heisst dann, es gäbe keine Gefahr für sie, Putin würde nur mit Berufssoldaten arbeiten. Das sieht Artyom anders: «Putin schickt sehr junge Männer in den Krieg. Letzte Woche starb der erste Soldat des Jahrgangs 2007. Das darf nicht sein.»
Erst gestern habe das Auswärtige Amt offiziell bestätigt, dass es in Deutschland keine humanitäre Aufnahme für Menschen aus Russland und Belarus geben wird. Artyom: «So wird das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung eine leere Hülle.» Lediglich in drei Fällen hätten Gerichte in Berlin und Hessen den Schutz vor Verweigern anerkannt – bald vier Jahre nach Beginn des Krieges. Für den Schutz von Verweigerern vier Jahre nach Beginn des grössten Krieges in Europa sei das viel zu wenig. Hunderte Verweigerer sässen in Transitzonen in rechtlicher Unsicherheit oder in Abschiebenhaft, seien bereits in der EU und bekommen trotzdem kein Asyl. Europa entferne sich damit von dem Menschenrechtssystem, das über Jahrzehnte aufgebaut wurde.
«Das dürfen wir nicht zulassen,» rief Artyom auf. «Kriegsdienstverweigerung ist kein Verbrechen, sie ist ein Akt des Mutes, sie ist die Verteidigung der Menschenwürde.»
Dass die EU die Kriegsdienstverweigerer des Gegners nicht mit offenen Armen empfängt, ist nach meiner Wahrnehmung nicht nur gegen die Menschenrechte, sondern auch gegen jedes Kriegskalkül. Dazu fallen mir nur sehr zynische Kommentare ein, die ich hier lieber nicht ausführen möchte - sie haben mit Kriegsverlängerung und Waffentests für steigenden Rheinmetall-Aktien zu tun.
Ich möchte lieber das Bild in Erinnerung behalten, wie die beiden Männer - trotz durchaus unterschiedlicher politischer Ansichten - Seite and Seite stehen, um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen. Wer heute noch Helden braucht, sollte sie wählen.