Mit diesen Worten gab Papst Julius II. dem Künstler Michelangelo Buonarroti freie Hand, die Decke der Sixtinischen Kapelle aus eigener Intuition zu gestalten. So entstanden vor 500 Jahren die Genesisfresken, eines der grössten und komplexesten Bildwerke der Menschheit. Aus der Serie «Vom Geschöpf zum Schöpfer» von Andreas Beers. Teil 6: Schlussbetrachtung.

Michelangelo Buonarroti. Detailausschnitt aus den Genesisfresken, Sixtinische Kapelle, Vatikanstadt Rom / © Mia Leu

Das Leben jedes Menschen ist ein grosses und komplexes Kunstwerk. Nicht nur der Mensch an sich, sondern vor allem seine die Zeiten überdauernden und im Verborgenen waltenden geistigen Impulse, sind das Credo. Credo im Sinne des ersten Wortes im Apostolischen Glaubensbekenntnis, Credo in Deum. Was bedeutet: Göttliches Glaubensbekenntnis als Erkenntnisweg und Lebenshaltung. Wir leben jeden Moment in der Präsenz unserer Vergangenheit. Mit jedem neuen Leben schaffen wir mit unserem bewussten Empfinden, Denken und Handeln, neue Ursachen für zukünftige physische Wirkungen. Darin liegt die schöpferische Freiheit in der Bildung des menschlichen Schicksals. Jedes menschliche Werk, egal wie gross oder klein es ist, kann uns Aufschluss geben über das geistige Streben des Akteurs.

Michelangelo Buonarroti, Schöpfer des Wandels oder genialer Wiederholungskünstler seines früheren Lebens? Mit Renaissance, dem in der heute geläufigen Schreibweise um 1830 aus dem Italienischen ins Französische übernommenen Wort Wiedergeburt, wird die europäische Kulturepoche der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit im 15. und 16. Jahrhundert bezeichnet. Der Begriff wurde in dieser Bedeutung massgebend vom Basler Historiker Jacob Burckhardt mit seinem Werk «Die Kultur der Renaissance in Italien» (1860) geprägt. Die vorausgegangene Epoche war die Gotik, die nachfolgende der Barock. In den wesentlichen Merkmalen einer Epoche erkennen wir das Weiterreichen der Geistimpulse von Zeit zu Zeit.

Wiederbelebt wurden in der Renaissance die geistigen Impulse der griechischen und römischen Antike. Von den Städten Norditaliens ausgehend beeinflussten vor allem Künstler mit ihrer innovativen Bildhauerei, Architektur, Literatur und Philosophie die Länder nördlich der Alpen, wenn auch in jeweils unterschiedlichen Nuancen. Neben Leonardo da Vinci, Raffael, Tizian, Botticelli oder Albrecht Dürer, war Michelangelo Buonarroti (1475-1564) einer der herausragendsten und vor allem einer der eigenwilligsten Künstler seiner Zeit: «Ich bin nicht Michelangelo der Bildhauer, ich bin Michelangelo Buonarroti. Niemals bin ich Maler oder Bildhauer gewesen wie einer, der ein Geschäft daraus macht. Davor habe ich mich stets bewahrt, meinem Vater und meinen Brüdern zur Ehre.»

Die Menschen spürten intuitiv, dass sie etwas verloren hatten und gierten förmlich nach einem geistigen Lebensinhalt. Der ursprüngliche «Empfindungsfaden» für die Einheit von menschlichem Sein und göttlicher Schöpfung, war im Bewusstsein der Menschen dieser Zeit fast vollständig zerschnitten. An seine Stelle trat das sich entwickelnde, ordnende und analytische Verstandesdenken. So gehören in diese Epoche auch bedeutende Schriftsteller wie Dante Alighieri und William Shakespeare, oder der Staatsphilosoph Niccolò Machiavelli, um nur wenig zu nennen. Sie gelten als die schärfsten Analytiker und Vertreter einer selbstbewussten Gesellschaftsordnung. Erasmus von Rotterdam wiederum war der Verfechter von Moral und Selbstreflexion – wie ein Friedrich Nietzsche, ein Streiter seiner Zeit. So ist es nicht verwunderlich, dass Michelangelo Buonarroti, als grosses Genie dieser Zeit, das alte Griechentum wieder zu beleben versuchte. Denn dort lebte seine Menschenseele noch «Tür an Tür» mit den Göttern der Welt.

«Wer Gott sieht, und Gott ist die Wahrheit, braucht sich nicht mit der Vorstellung von ihm zu begnügen.» Diese Aussage Michelangelos und seine bildhauerische und malerische Ausdrucksweise beschreiben den wahren Wesenskern seiner künstlerischen Natur: Eine «alter Geist» bildete und formte seine Seele, aus der heraus er seine Kraft und Eigenwilligkeit schöpfte, die in seinen Werken bis heute in Erscheinung treten. Wie aus einem Brief Michelangelos ersichtlich, war er mit dem erstgenannten Auftrag die zwölf Apostel darzustellen nicht zufrieden, da es ihm eine cosa povera, ein ärmliches Ding zu werden schien: «Nachdem ich das Werk angefangen hatte, schien es mir ein ärmliches Ding zu werden, und ich sagte dem Papst, dass, wenn man nur die Apostel machen würde, eine ärmliche Sache dabei herauskäme. Er fragte mich warum, und ich sagte ihm: weil auch sie arm waren.»

Offenbar überzeugte den Papst die Begründung Michelangelos, denn es kam, wie der Künstler weiter berichtete zu einem neuen Auftrag, welcher lautete: «Che io facessi ciò che io volevo!» zu Deutsch «Mach, was du willst!». Man mache sich die Machtverhältnisse dieser Zeit klar: Wer in dieser Zeit nicht dem Willen der kirchlichen Macht folgte, war des Todes sicher, ob König oder Kaiser. Nicht so Michelangelo Buonarroti.

Die Genesis als grundlegende Beschreibung für die Existenz des Göttlichen, die Erschaffung von Licht und Finsternis, von Erde und Mensch. Bis heute ist es für die analytische kunsthistorische Forschung ein Rätsel warum Michelangelo dieses Thema in dieser bildlichen Darstellung und Abfolge wählte: «Das letzte Geheimnis der sixtinischen Deckenfresken liegt wohl im Mysterium von Michelangelos Genie beschlossen.» Durch eine kontemplative (konzentriert-beschauliches, urteilsfreies Nachdenken und geistiges Sichversenken in etwas) Betrachtungsweise können wir, anhand der Genesisfresken und im Besonderen in den Darstellungsformen seiner Figuren, des Gottvaters, des Adams, der Propheten und Sybillen, dem geistigen Ursprung unseres Sein und der Welt als sinnlichem Anschauungs- beziehungsweise Erfahrungsort desselben, näher kommen. Dies war vielleicht der innere Auftrag, die geistige Intension Michelangelo Buonarrotis.

Betrachten wir mit dieser Methode die heutigen sogenannten Kunstwerke, ob in der Bildenden Kunst, der Architektur oder auch unsere eigenen Werke, können wir erkennen wessen «Geistes Kind» die Akteure oder wir selbst es sind.

In dieser Serie bereits erschienen:
Teil 1. Wir glauben alles, wissen nichts und haben die Wahrheit gepachtet

Teil 2. Wahrheit und Wissenschaft – drei Fragen nach der Erkenntnis von Welt und Sein
Teil 3. Der Stoff, aus dem wir sind - und warum wir nicht schützen können, was wir nicht verstehen
Teil 4. Die Genesis im Lichte der menschlichen Embryonalentwicklung
Teil 5. Karma - der schöpferische Akt von Ursache und Wirkung

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Ihr habt mich nie gekannt und kennt mich auch jetzt noch nicht. Gott verzeiht es Euch, denn von Ihm wurde mir die Gnade, das zu leisten, was ich leiste, damit Euch geholfen werde. Aber Ihr werdet es einmal erkennen, wenn Ihr mich nicht mehr habt.» (Aus einem Brief Michelangelos an seinen Bruder vom 30. Juli 1513.)