«Man darf nie an die ganze Strasse auf einmal denken»

Ferienzeit – Zeit, die Seele baumeln zu lassen, Zeit, zu lesen. Bücher gibts wie Sand in der Sahara, doch nur seltene Perlen hinterlassen bleibende Eindrücke. Solch ein Buch ist «Momo» von Michael Ende – ein Buch für das Kind im Erwachsenen. Kennst auch du, liebe Leseratte, ein für dich besonderes Buch, das das innere Kind anspricht? Wir freuen uns, wenn du es in die Kommentare stellst und in wenigen Sätzen erwähnst, was dich daran berührt hat. Aus der Reihe «Besondere Bücherperlen».

© Mirjam Rigamonti

Ich bin eine Vielleserin, aus Leidenschaft, studienbedingt, doch ich habe leider kein Faktengedächtnis. Wo andere Informationen abrufen können, bleiben bei mir nur Eindrücke, Gefühle, schemenhafte Bilder hängen. Gelerntes Schulwissen schwimmt so in einem undefinierten Meer von Gelesenem und je nach Situation tauchen einzelne «Wissens-Inseln» auf und erhalten eine Form. Zum Glück finde ich bei den mir wichtigen Büchern meistens die mir wichtigen Stellen, so dass ich diese als Fakten weitergeben kann. Und glücklicherweise dient auch Google oft als Gedächtnisstütze.

Nun gibt es Bücher, die keine Fakten, sondern Lebensweisheiten enthalten, direkt von Herz zu Herz gehen und bleibende Eindrücke hinterlassen. Sie kommen oft in der Form von Kinderbüchern und sprechen daher das Kind im Erwachsenen an. Unser überkritischer, neunmalkluger Intellekt wird so ausgetrickst und die Aussagen erreichen unmittelbar einen Ort in uns, wo wir noch offen und empfänglich sind für Wunder und Geheimnisse des Lebens.

Eines dieser Bücher ist «Momo» von Michael Ende. Die Geschichte ist simpel und doch von einer tiefen Weisheit und gesellschaftlichen Aktualität. Ein kleines Mädchen namens «Momo», dem gesellschaftliche Normen wie Leistung, Gehorsam und Sicherheit fremd sind und das stattdessen in voller Freiheit und Natürlichkeit lebt, besiegt am Schluss ein Heer von «grauen Herren». Sie tut es, indem sie ihren inneren Werten treu ist und sich weder kaufen noch erpressen lässt. Diese «grauen Herren» leben und vermehren sich durch die Lebenszeit der Menschen, die diese zwanghaft für sie zu sparen versuchen. Es entsteht eine gestresste, kalte und selbstbezogene Gesellschaft, der die Zeit sowohl für ein sinnerfülltes Leben, als auch für ein gemeinschaftliches Miteinander fehlt.

Gerade diese Einfachheit der Handlung zeigt, dass wichtige Botschaften keine klugen, wissenschaftlichen Abhandlungen brauchen, um Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern. Wenn eine schlichte Geschichte mit Liebe erzählt wird, vermag sie Türen zu öffnen zu einer inneren Weisheit, die in jedem Menschen vorhanden ist.

Erzählt wird «Momo» in märchenhaft-spannenden Bildern, die in ihrer symbolischen Kraft auch über Jahre hinweg lebendig bleiben. Eine Besonderheit des Mädchens «Momo» besteht darin, dass sie in voller Präsenz und Offenheit zuhören kann. So gelingt es dem Gegenüber, sich selber auf eine ganz neue Art zu erfahren und verborgene Schatzkammern in seinem Herzen zu entdecken. Zudem begeistert «Momo» die Menschen für das freie, kreative und absichtslose Spielen, so dass manche vermeintlichen Defizite zu Stärken werden und eine heilsame Selbstentfaltung einsetzen kann. So lernt «Gigi, Fremdenführer» die Touristen mit den spannendsten Geschichten zu faszinieren und die langsame und wortkarge Art von «Beppo Strassenkehrer» die Strassen zu kehren, wird dank «Momo» zu einer wertvollen achtsamen Arbeitshaltung umgedeutet.

Zudem wird gezeigt, wie wichtig es ist, Zeit nicht als Leistungswerkzeug zu missbrauchen.

In der heutigen Zeit, in der ein uniformes Auftreten und kritikloses Leistungs- und Konsumverhalten oft zur unhinterfragten Normalität gehören, zeigt «Momo» die Wichtigkeit von Werten wie Liebe und den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, die in unserer Gesellschaft wieder dringend benötigt werden. Zudem wird gezeigt, wie wichtig es ist, Zeit nicht als Leistungswerkzeug zu missbrauchen, sondern sie als wertvolle Lebenszeit wertzuschätzen. Sie kann uns in stillen Momenten «Stern-Stunden» bescheren, in denen wir die Verbundenheit mit etwas Grösserem erahnen dürfen. Dies geschieht, wenn es uns gelingt, die Zeit anzuhalten und in voller Präsenz im gegenwärtigen Augenblick zu leben.

Michael Ende warnt uns mit dieser Geschichte vor dem Wirtschaftszwang des unendlichen Wachstums, bei dem das quantifizierbare Denken zu einer Aushöhlung wichtiger menschlicher Werte führt und unser Leben so grau und krank hinterlässt, wie es die «grauen Herren» tun. In einem Interview 1994 meinte er, dass wir bereits in einem dritten Weltkrieg wären, der nicht materiell, sondern mit der Zeit der Menschen geführt wird, auf Kosten der nächsten Generationen. Die Werte, die «Momo» vermittelt, könnten einen wichtigen Schritt zu Heilung unserer Gesellschaft bedeuten.  

Abschliessend möchte ich «Beppo Strassenkehrer» zu Wort kommen lassen: «Man darf nie an die ganze Strasse auf einmal denken… Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich….Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.»

 

Michael Ende: Momo, Thienemann Verlag

Spannende Doku über Michael Ende und den Hintergrund von Momo: https://www.youtube.com/watch?v=FNUZiJ80sgI

 

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Buch

von juerg.wyss
Der Pfad des friedvollen Kriegers von Dan Millman