«An meinem Tisch sind alle willkommen»
Für zertifikatsfreie Zugreisende ist kein Platz mehr im Speisewagen. Hier ist Kreativität gefragt. Nun reist Stefan mit seinem Köfferchen quer durch die Schweiz und zelebriert seine Mahlzeiten in stilvoller Weise.
Die verwaisten Speisewagen während den Restaurantschliessungen waren für Stefan eine Inspirationsquelle. Der angehende Jurist, der regelmässig die Strecke Winterthur – Fribourg und retour fährt, speiste vor «Corona» auch gerne mal im SBB-Restaurant. Der unbenutzte, aber für Fahrgäste offenstehende Speiswagen, wurde kurzerhand zu seinem persönlichen «Tischlein deck dich.»
In sein Köfferchen aus den 70ern packt Stefan alles, was für ein stilvolles Essen wichtig ist: Porzellantassen und Teller, eine Etagère, heisses Wasser, verschiedene Teesorten, Kaffee- und Milchpulver, eine hübsche Zuckerdose und eine weisse Tischdecke aus Stoff. «Das Geschirr habe ich mir im Brockenhaus geholt», sagt Stefan. Die warmen Speisen kauft er sich vor der Abfahrt an einem der Bahnhof-Take-Aways.
Als er sich wieder einmal auf einem der Tische des SBB-Spiesewagens ausbreitete, zog er neugierige Blicke auf sich. Als er dann noch genüsslich in sein mit Konfitüre und Butter bestrichenes «Zmorgebrötli» biss, war es wohl um die Mitreisenden geschehen. Einige warfen einen Blick in die dunkle Bordküche, in der Hoffnung, ebenfalls eine leckere Mahlzeit zu ergattern. Verwundert fragten sie Stefan, bei wem er das Essen bestellt habe. «Ich packe immer ein zweites Gedeck ein», sagt Stefan, der die hungrigen Mäuler zu sich an den Tisch einlud.
Ein Gespräch mit seinen Gästen kommt da schnell in Gang, was stets immer zu der Frage führt: «Wieso machst du das?» Es sei ihm bewusst, dass er mit seiner Aktion provoziere. Doch negative Erlebnisse hatte er bisher keine, betont er. «Ich möchte die Menschen zum Denken animieren.» Auch ein Zugbegleiter hatte sich schon zu Stefan gesetzt und mit ihm geplaudert. Die meisten seiner Gäste sind Massnahmenbefürworter, die neugierig sind und sich für seine Beweggründe interessieren. Vielen werde erst durch den persönlichen Kontakt bewusst, mit welchen Einschränkungen und Hürden eine Zertifikatspflicht verbunden sei, meint er.
Seit der SBB-Speisewagen für «3-G-Gäste« wieder geöffnet ist, breitet Stefan sein Gedeck auf den ausklappbaren Tischen in der zweiten Klasse aus. Obwohl der Student und Familienvater mittlerweile über ein «Genesenen-Zertifikat» verfügt, missbilligt er die Massnahmen und setzt weiter auf seine rollende Begegnungsstätte. «Ausgeklappt misst der Tisch 60 mal 40 Zentimeter», erklärt Stefan und erzählt, dass er sich eine etwas grössere, leichte Holzplatte besorgt habe, die er mit kleinen Schraubzwingen an der bestehenden Tischplatte anbringe: «Dann hab’ ich Platz für vier Personen», lacht er.
Obwohl sein Aufwand für das originelle Speisen im Zug gross ist, macht Stefan weiter und sieht die Aktion als seinen ganz persönlichen Beitrag zur Aufklärung: «An meinem Tisch sind alle willkommen; ich freu mich auf weitere spannende Begegnungen im Zug.»
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