Wir haben zu viele Optionen. Um uns auf unsere wirklichen Ziele zu konzentrieren, müssen wir lernen, auch positive Möglichkeiten auszuschlagen. Dies ist die Botschaft von Greg McKeowns bemerkenswertem Buch «Essentialismus».

Illustration: pxhere

Warum wir meinen, es gäbe von allem zu wenig und wir müssten jede Chance nutzen, ist eine offene Frage. Vielleicht hat uns die Evolution gelehrt, nur so in einer kargen Umwelt überleben zu können. Vielleicht wurden wir auch von unserem auf Wachstum getrimmten Wirtschaftssystem so programmiert, dass wir dauernd das Gefühl haben, zu wenig zu haben und mehr zu wollen.

Tatsache ist, dass wir heute mit einer Fülle von Optionen zugedeckt werden, die wir nur mit einem grundlegenden Sinneswandel bewältigen können. Dank dem Internet werden wir nicht nur mit Informationen überflutet, sondern auch von Meinungen, Handlungsangeboten und Kaufanreizen. Überall sollte, könnte und müsste man. Wer sich nicht zu beschränken lernt, wird von der Grenzenlosigkeit gefangen genommen. Vor allem Jüngere sind davon betroffen, die zum Teil schon mehrere Stunden täglich mit dem Smartphone in der virtuellen Welt herumirren.

Wir müssen also lernen, auch zu zweifellos positiven Möglichkeiten Nein zu sagen. Der Engländer Greg McKeown ist zwar Business Consultant in den USA. Aber seine Vorschläge im Buch «Essentialismus» richten sich an Individuen und zielen auf die Verwirklichung von dem, was uns wirklich wesentlich ist. Ordnung in ein übervolles, mit Nebensächlichkeiten zugemülltes Leben zu bringen, vergleicht er mit dem Aufräumen eines Kleiderschrankes. Dabei geht es nicht darum, die Kleider, die man vielleicht noch tragen möchte, sauber zu ordnen, sondern alles zu eliminieren, das man nicht häufig trägt oder in dem man nicht grossartig aussieht.

Für die konsequente Eliminierung von Unwichtigem gibt es ein Vorbild aus der Wirtschaft: Das Pareto-Prinzip aus den 1890er Jahren besagt, dass mit 20 Prozent des Aufwandes 80 Prozent der Ergebnisse erzielt werden. Oder umgekehrt: 80 Prozent unserer Aktivitäten führen bloss zu 20 Prozent der Resultate, sind also Leerlauf. Die subtile Kraft der Beschränkung auf das Wesentliche zeigt auch die Tatsache, dass seit 1981 zwei Drittel der mit dem Oscar als bester Film ausgezeichneten Werke auch gleichzeitig den Preis für den besten Schnitt gewannen.

Die drei Fragen, die Greg McKeown zur Selbstprüfung vorschlägt, lauten: «Wofür kann ich mich durch und durch begeistern?», «Wofür kann ich mein Talent nutzen?» und «Wofür gibt es einen erheblichen Bedarf in der Welt?». Ein «Ja, warum nicht» genügt also nicht. Es muss ein Ja der tiefsten Überzeugung sein, um sich zu etwas zu verpflichten. Das heisst nicht, dass es keine Kompromisse geben darf – sie sind im Leben unvermeidlich. Die Frage lautet vielmehr: «Welches Problem will ich lösen?» Wenn ich es will, werde ich es auch lösen können.

Die Entscheidung für das Wesentliche ist kein einmaliger Schritt in ein neues Leben, obwohl es durchaus so beginnen kann. Es ist vielmehr eine andauernde Disziplin, die zudem Zeit erfordert. «Wollen wir erkennen, was wirklich wesentlich ist», schreibt Greg McKeown, «benötigen wir Raum zum Denken, Zeit zum Schauen und Zuhören, die Erlaubnis zu spielen, die Weisheit zu schlafen und die Disziplin, höchst selektive Auswahlkriterien anzuwenden.» Ironischerweise würden aber Aktivitäten wie Zuhören, Spielen, Schlafen und Auswählen in einer nicht-essentialistischen Gesellschaft als belanglose Zerstreuung angesehen.

Man muss also, wenn man Essentialist werden will, auch bereit sein, aus der Norm zu fallen. Wie oft geben wir nicht eine halbherzige Zusage, um jemandem zu gefallen oder weil wir nicht gelernt haben, Nein zu sagen, ohne eine Beziehung zu gefährden. Vermutlich sind es aber weniger die unüberlegten Gefälligkeiten, die uns im Unwesentlichen gefangen halten, sondern die Verlockungen, denen wir selber unterliegen und der fehlende Mut, zu unseren wirklichen Zielen zu stehen.

Greg McKeown ist ein überzeugender Autor, der sein Handwerk versteht und sein Konzept immer wieder mit anschaulichen Geschichten illustriert. Die Lektüre macht Spass und motiviert, den Kleiderschrank seines Lebens aufzuräumen. Dass er dabei auf Prinzipien antiker Philosophen zurückgreift und daraus seine eigene Marke «Essentialismus» aufbaut, wollen wir ihm nachsehen.  

 

Greg McKeown: Essentialismus – die konsequente Suche nach weniger. Ein neuer Minimalismus erobert die Welt. Unimedica, 2018. 296 S. CHF 30.90/EUR 19.80.