«Ich strebe eine Architektur an, die unsere Neugier am Leben steigert.»
Chapeau vor dem Meister vergänglicher Baukunst
Seine schwingenden, weissen und grünen Schattenüberdachungen gaben Tamera jahrelang seinen luftigen Charakter. Die gewundene, lichte «Esplanada» empfängt jedes zweite Jahr an die 20.000 Teilnehmer des Boom-Festivals in Portugal. Seine Gebäude und Gebilde – Schattendächer, Lehmhäuser, Ateliers, eine Open Air Bar und ein Begegnungsstall – sind vor allem Orte der Kommunikation – unter Menschen und mit der Natur. Ich ziehe den Hut vor Martin Pietsch und seiner schamlosen Begeisterung.
«Letztes Jahr wollte ich sterben», sagt er. «Was? Wieso?» «Ich hatte Corona, es ging mir sauschlecht, und ich hatte einfach keine Lust mehr auf diese Dimension.» Er wollte, so fährt er fort, im Jenseits weiterlernen. Ausserdem habe hier keiner mehr Interesse an seiner Arbeit. Dachte er.
Doch dann kam sein «grosser Bruder», wie er seinen alten Freund und Weggenossen Dieter Duhm nennt. «Er setzte sich an mein Krankenbett, nahm mich in den Arm und sagte mir zwei Dinge, die mich umdenken liessen. Nämlich: Wie kannst du jetzt sterben wollen, du weisst doch noch gar nicht, wer du bist ! Und du wirst bei uns noch gebraucht!»
Martin Pietsch erhob sich vom Krankenlager und arbeitet seitdem wieder unermüdlich an seinem Schreibtisch im Gästehaus von Tamera. Er tanzt, konstruiert, kocht, flirtet und redet mit Gästen, Freunden, Besuchern und versucht herauszufinden, wer er ist. Und all das mit der ihm eigenen überschäumenden Lebensfreude.
Die «Aonda»
Das Dach des Friedens
Die Feuerstelle in der «Bauhütte»
Ich begegnete Martin Pietsch, dem «Baukünstler», wie er sich nennt, und seiner ersten Bauskulptur in einer kleinen Gemeinschaft im Südschwarzwald, der Bauhütte: Über einer Feuerstelle hatte er hoch oben eine Konstruktion aus spitzen Zeltstoff-Dreiecken gespannt. Sie war von eigentümlicher Schönheit – bot Geborgenheit und Öffnung gleichzeitig – und das bei aller Schlichtheit des Materials. An diesem Ort fanden die schönsten Treffen statt, die ich bis dahin gekannt hatte. Wir waren beieinander, in der Natur – und trotzdem geschützt. Es war das erste seiner im Laufe der Jahre Dutzenden von Baukunstwerken, die ich kennenlernte. Stets getragen von wilder Inspiration, stets pragmatisch umgesetzt mit dem oft wenigen Geld und dem Material, das eben gerade zur Verfügung stand – seien es Eukalyptusstangen, Seile, Strohballen oder Segeltuch.
Mein künstlerischer Weg ist die Suche nach der Verbindung von Architektur und Kommunikation.
Martin: «Wir wollten damals eine Überdachung haben, um bei jeder Wetterlage am Feuer sitzen zu können. Das heisst, wir wollten einen Raum oder eine Zone schaffen, um mit dem Wind, der Sonne und dem Regen kontinuierlichem Kontakt zu haben und gleichzeitig geschützt zu sein.»
Es war der Beginn der von ihm so genannten Mehr-Zyklen- und Zonen-Architektur. «Mir geht es immer darum, uns unabhängig von der Wettersituation in oder um einen Baukörper so aufzuhalten oder bewegen zu können, dass wir die vitalisierenden Naturkräfte direkt erleben können. Und gleichzeitig vor ihnen geschützt zu sein, weil wir nicht frieren, nass werden oder schwitzen wollen.»
Martin Pietsch, geboren 1945 in Berlin in einer von Kriegstraumata verstörten Familie, suchte zunächst Heimat in seinem Engagement für die Kirche, studierte Design und war im Messebau tätig. Doch seine Liebe galt der Baukunst, dem Tanz und dem Leben. In der Bauhütten-Gemeinschaft fand er – vielmehr als auf der Hochschule oder der Industrie – einen Weg, das zu verbinden.
«Mein künstlerischer Weg ist die Suche nach der Verbindung von Architektur und Kommunikation», erzählt er. Mit Kommunikation meint er nicht nur das Zusammensein unter Menschen, sondern auch die gewünschte Nähe und Distanz zur wilden Tier- und Pflanzenwelt. «Durch verschiedene Habitate und Zonen kann ich als Baukünstler in und um das Gebäude die gewünschte Kontaktaufnahme ermöglichen. Die zentrale Frage meiner Arbeit ist: Wie kann Baukunst die kommunikativen Prozesse in der ´Gemeinschaft allen Lebens unterstützen?»
Auch als Baukünstler sieht er sich als «Tänzer», wo z.b. auf dem Papier der Zeichenstift eine Bauaufgabe tanzend sichtbar werden lässt. «Ein Baukörper der aus einem Tanz geboren wurde, wird seine Bewohner auch dazu bewegen können, mit allem spielerisch Kontakt herzustellen, also ähnlich einer Blume, die sich immer dem ersehnten Sonnenlicht zuwendet.»
Ich ahne auch das Dilemma seines Lebenswerk: Jeder Architekt kann sogar noch vom Jenseits aus auf seine Bauwerke zurückblicken. Doch Martins Gebäude und Gebilde sind oft temporär und aus vergänglichem Material: Lehm, Tuch, Gaze. Die meisten werden nicht gebaut und gezimmert, sondern genäht und gespannt. Mit ihrem geringen Haltbarkeitsdatum sieht man die meisten nur während der warmen Jahreszeit. Sie werden einige Male auf- und abgebaut, bevor sie zerfallen. Doch viele haben in mir und anderen einen tiefen Seelenabdruck hinterlassen: Bei der «Aonda»-Bar folgte er dem Bild einer Welle auf dem Ozean; bei der Gestaltung eines Basars der Form von Sicheldünen in der Wüste. Die Küche eines Festivals als eine «cooking is love in action»-Bühne, ein «Dach des Friedens» als Versammlungsplatz für Friedensaktivisten … immer sind seine Entwürfe die Folge eines tiefen Sich-Einlassens auf die Wünsche und Träume seiner späteren Nutzer.
«Esplanade» auf dem Boom-Festival
So baute er ein Leben lang, was immer in seiner Gemeinschaft oder deren Kooperationspartnern gebraucht wurde. Einmal war das ein offener Pferdestall. Die Pferde sollten frei kommen und gehen können, frei entscheiden, wann sie mit den Menschen in Kontakt sein wollen. «Der Offenstall sollte also eine Begegnungsstätte sein – für Mensch und Pferd, aber auch für Partys, die Jugendliche dort feierten. Und im Winter ist der Stall eine Weihnachtskrippe für unsere Kinder.»
Den offenen Lehmbau entwarf er als «einen ansteigenden Wirbel der Intimität». «Ich versuchte, viele Nischen und Räume für die Vielfalt von Leben und Begegnung zu erzeugen, die sich in und um einen Stall entfaltet. Heute sehen wir, dass die Natur weitergearbeitet hat: Insekten bauten sich in den Lehm- und Strohwänden eigene Nischen, und Mäuse haben sich darin eine eigene, sehr komplexe Wohnstruktur geschaffen.»
Atelier Casa Sandra
Martin lauscht auf Äusserungen des ersten Eindrucks. Woher kommt es, wenn jemand sagt: «Hier fühle ich mich wohl?» oder: «Hier ist es schön.»
Martin: «Oft durch musikalisch vernetzte Proportionen, die man latent wahrnimmt. Oder durch die Harmonie männlicher und weiblicher Formgebung.» So begleitete er die Bildhauerin Sandra S. beim Bau ihres Ateliers. «Es war ein monatelanger intensiver Prozess, immer in Kontakt mit der Seele dieser Bauaufgabe. Wir haben einen Ort geschaffen, der den Blickkontakt zu kosmischen Horizonten ermöglicht und die Menschen bei ihrer Arbeit meist unbewusst inspirieren kann.»
«Aula» in Tamera
Den Innenraum der Aula von Tamera – den 400 Personen fassenden Lehm-Strohballenbau – gestaltete der frühere Messdiener «von der Scheune zum sakralen Raum» - indem er den bäuerlich wirkenden Zwischenboden vom Statiker entfernen liess. «Ich wollte Weite erzeugen und orientierte mich an einem Kirchenschiff – oder dem umgekehrten Bootskörper einer Arche Noah.»
Martin Pietsch sieht seine «Mehrzyklen- und -zonenarchitektur» auch als Verbindung von weiblichen und männlichen Elementen. «Die Kunst der Wahrnehmung ist der Schöpfungsprozess selbst und für mich weiblich. Der Baukörper ist das männliche Produkt dieses Prozesses. Auch in der Formgebung eines Gebäudes selbst kann es weibliche und männliche Raum-Form-Elemente geben. In einem Baukörper sind also immer wieder das Weibliche und das Männliche in vielfacher Weise miteinander verwoben.»
So wird Architektur zur Suche nach der Geborgenheit bei der Mutter. Die bisherige patriarchale Geschichte privatisierte, um zu bauen, ein entsprechendes Stück in der Landschaft. Man fragt nicht, was hier für ein Leben schon ist und wie es miteinander in Kontakt steht. Martin: «Ich strebe eine Architektur an, die das alles miteinbezieht - und unsere Neugier am Leben noch steigert.»
Ich wünsche ihm und seiner Umgebung noch viele Jahre frohen Schaffens.
von:
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