Doppeldenk und die Abschaffung der Wahrheit
Wenn Wahnsinn zur Wahrheit erklärt wird, reicht die Diktatur bis ins Innerste des Menschen. Im fünften Teil seiner Serie über das Böse beleuchtet Charles Eisenstein weitere Abgründe, nicht nur von «1984», sondern von heute.
Hier sind die Teile 1, 2, 3 und 4 zu finden.
Was meint Orwell damit, wenn er vorschlägt, «den Bereich, in dem der gesunde Menschenverstand regiert, auszuweiten»? Vernunft ist Wahrheit und steht im krassen Gegensatz zu dem von Doppeldenk ausgehenden Wahnsinn. Doppeldenk, das zusammen mit Neusprech das Fundament bildet, auf dem die Partei ganze Wirklichkeiten konstruiert, ist Wahnsinn. Vereinfacht ausgedrückt ist Wahnsinn die Leugnung dessen, was wirklich ist.
Und wenn nicht nur Fakten, sondern die Realität selbst geleugnet wird, ist dies der Gipfel des Wahnsinns. An einer Stelle zeigt O’Brien Winston einen Zeitungsausschnitt, der beweist, dass die Partei gelogen hat. Dann wirft er ihn ins Gedächtnis-Loch.
«Asche», sagte er. «Nicht einmal identifizierbare Asche. Nichts als Staub. Es existiert nicht. Es hat nie existiert.»
«Doch! Es hat existiert. Es existiert! Es existiert in der Erinnerung. Ich erinnere mich daran. Sie erinnern sich daran.»
«Ich erinnere mich nicht daran», sagte O’Brien.
Später versucht Winston zu argumentieren, dass es eine Wirklichkeit ausserhalb des Geistes der Partei gebe.
«Sie kontrollieren nicht einmal das Wetter oder das Gesetz der Schwerkraft.»
O’Brien brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. «Wir kontrollieren die Materie, weil wir den Geist kontrollieren. Realität findet im Schädel statt. Sie werden es schrittweise lernen. Es gibt nichts, das wir nicht könnten. Unsichtbarkeit, Levitation – alles. Wenn ich wollte, könnte ich wie eine Seifenblase über dem Boden schweben. Ich will es nicht, weil die Partei es nicht will. Sie müssen diese ins neunzehnte Jahrhundert gehörenden Vorstellungen über die Naturgesetze über Bord werfen. Die Naturgesetze machen wir.»
Sogleich kommt einem hier die berühmt-berüchtigte Prahlerei von Karl Rove, dem früheren Berater von George W. Bush, in den Sinn: «Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität.»
Etwas ist wahr, wenn es «dem Narrativ» dient. Die Vertreter der Bush-Regierung wussten wahrscheinlich, dass die Behauptungen, der Irak stelle Massenvernichtungswaffen her, falsch waren. Aber da sie Teil eines Realitätskonstrukts waren, das ihren Zwecken diente, wurden diese Behauptungen wahr – das heisst, sie wurden Teil der offiziellen Wahrheit.
Aus diesem Grund lässt Orwell O’Brien sagen: «Es wird keine Wissenschaft geben.»
Wenn Wissenschaft – im Idealfall – das von menschlichen Vorurteilen unbeeinträchtigte Streben nach Wahrheit ist, so steht sie den Interessen der «Partei» im Wege. Diese muss daher den wissenschaftlichen Einrichtungen genau vorschreiben, welche «Fakten» sie zu produzieren haben, nämlich solche, die dem Narrativ der «Partei» dienen.
Ich kann es mir nicht verkneifen, hier eine Anmerkung aus der Perspektive von 2022 einzuwerfen (den Grossteil dieses Essays verfasste ich 2009 und 2010). In den vergangenen Jahren haben wir beobachten können, wie «Faktenchecker» objektiv sachliche Aussagen als Fake News kennzeichneten. Aus der Orwell’schen Perspektive waren sie tatsächlich Falschmeldungen, denn sie widersprachen der Realität der «Partei». Aus demselben Grund wurden unzählige Beiträge, in denen Menschen von am eigenen Leib erfahrenen Impfnebenwirkungen berichteten, aus den Social-Media-Plattformen entfernt, weil sie angeblich Falschinformationen enthielten oder gegen die Richtlinien der Gruppe verstiessen. Diese Geschichten standen im Widerspruch zur offiziellen Wahrheit, dass Impfungen sicher sind. Und sie widersprachen dem grösseren, darin enthaltenen Narrativ, dass der grenzenlose technologische Fortschritt der Menschheit das Leben besser macht.
Etwas ist wahr, wenn es dem Allgemeinwohl dient. Etwas ist wahr, wenn es der «Partei» dient. Etwas ist wahr, wenn es uns, «den Guten», einen Vorteil verschafft. Demzufolge sind Lügen im Dienst der «Partei» keine Lügen.Die grössten Lügner machen einen besonders ehrlichen Eindruck, denn sie beherrschen Doppeldenk so gut, dass sie sich selbst vorlügen können, sie würden nicht lügen. Die Architekten der ungeheuerlichen Täuschungen unserer Tage glauben, was sie sagen, und glauben es auch wiederum nicht. In den Lügen, die sie uns erzählen, ist auch die Wahrheit enthalten. Wir müssen Doppeldenk verstehen lernen, wenn wir verstehen wollen, wie die Macht in der Welt agiert.
Dazu sagt Orwell:
…Bewusst Lügen zu erzählen, an die man ehrlich glaubt; jede unbequem gewordene Tatsache zu vergessen, um sich bei Bedarf wieder daran zu erinnern; die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen und die ganze Zeit über die von einem geleugnete Realität einzukalkulieren – all das ist unabdingbar.
Und:
… Zu wissen und nicht zu wissen, absoluter Wahrhaftigkeit innezusein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte, gleichzeitig zwei sich einander ausschliessende Meinungen zu vertreten, zu wissen, dass sie widersprüchlich waren und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu führen, die Moral abzulehnen und sie für sich in Anspruch zu nehmen … und vor allem eben dieses Verfahren auf das Verfahren selbst anzuwenden – das war die höchste Finesse: bewusst die Unbewusstheit herbeizuführen und sich dann wieder des eben vollbrachten Hypnoseakts unbewusst zu werden. Allein schon das Begreifen des Wortes Doppeldenk beinhaltete den Gebrauch von Doppeldenk.
Doppeldenk geht unweigerlich mit Machtergebenheit einher, denn Macht ersetzt Wahrheit. Beispiele dafür gibt es in der Politik zuhauf, wie die Vereinigten Staaten und ihre etablierten Medien, die sich als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten ausgeben, während sie einige der brutalsten Regime der Welt unterstützen, solange diese sich den Forderungen der USA beugen. Heute berufen sich Politiker bei der Verfolgung ihrer Gegner ernsthaft auf strikte Rechtsvorschriften, während sie dieselben zynisch ignorieren, wenn es um sie selbst oder ihre Verbündeten geht. Vorschriften, Grundsätze und Moral sind der Macht untergeordnet, werden beachtet, wenn sie ihr dienlich sind, und ansonsten verworfen.
Wenn die äussere Realität nicht mit der Lügenmatrix übereinstimmt, muss die äussere Realität modifiziert werden. Der Propagandist tut dies ganz bewusst, denn letztendlich sind echte Aufzeichnungen und Daten, die dem Narrativ widersprechen, per definitionem falsch. Als Orwell in den 1940er Jahren den Roman 1984 schrieb, steckte die Technik zur Modifizierung historischer Aufzeichnungen noch in den Kinderschuhen: retuschierte Fotos und so weiter.
Heute, wo nahezu alle Aufzeichnungen elektronischer Art sind, bedarf es für eine solche Modifizierung nur weniger Tastenanschläge. Ganze Ereignisse können neu geschrieben oder gänzlich gelöscht werden. Wir treten gerade in ein Zeitalter ein, in dem es immer schwerer wird zu erkennen, was real ist. Der Kampf um die Macht eskaliert zum Kampf um die Herrschaft über die Realität – durch die Kontrolle von Worten und Gedanken.
Philosophische Rückendeckung erhält dieser Wahnsinn vom Postmodernismus, der in den 1960er Jahren Gestalt annahm und behauptet, dass die Realität ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Ignorieren wir zunächst einmal das Paradoxon, das die Verwendung des Wortes «ist» in dieser Aussage impliziert, und betrachten die Hybris, die in ihr liegt. Sie ist keineswegs «post»-modern, sondern die Kulmination des «modernen» Strebens nach der Herrschaft über die Natur. Indem sie verkündet, dass nichts ausserhalb der Menschenwelt existiert, erhöht sie die Menschheit zur Herrscherin über die Realität.
Zwar greift sie nach einer bedeutsamen Wahrheit – nämlich, dass Realität und Wahrnehmung, Betrachter und Betrachtetes, das Selbst und das Andere gegenseitig bedingt entstehen und untrennbar miteinander verwoben sind –, doch lässt sie die Möglichkeit ausser Acht, dass es jenseits der menschlichen Intelligenz noch andere Formen von Intelligenz gibt. Die Realität mag vielleicht einfach nur eine Geschichte sein – doch wer erzählt diese Geschichte?
Hier können wir Parallelen zwischen der alles umfassenden Macht der «Partei» in «1984» und der Ideologie der Dominanz feststellen, die unsere moderne Zivilisation ausmacht. Beide sind «ver-rückt», denn beide verstricken sich in einer falschen Realität, einer Matrix von Trugbildern, die sich als Wahrheiten verkaufen.
Mit dem Übergang der Zivilisation vom industriellen ins digitale Zeitalter nimmt dieser Wahnsinn zu, denn die Formbarkeit der digitalen Welt und ihre Abkoppelung vom Materiellen tragen zu dem Trugschluss bei, die Realität sei unser eigenes Konstrukt.
Verloren in einer sich selbst verstärkenden Welt von Zahlen, Symbolen und Glaubenssätzen nehmen wir das Leid, das unsere Entscheidungen verursachen, nicht einmal wahr. So gross ist die Macht dieser falschen Realität, dass wir, selbst wenn wir das Leid schliesslich doch sehen, das Böse einfach als gut darstellen – wenn die Aufrechterhaltung des Narrativs dies erfordert.
Was ich hier beschreibe, ist Doppeldenk, ausgedehnt auf eine ganze Kultur. Es ist das Gegenteil von Vernunft und gesundem Menschenverstand.
Wie schaffen du und ich es als angehende Mitglieder der Bruderschaft, den Bereich auszuweiten, in dem der gesunde Menschenverstand herrscht? Natürlich können wir uns bemühen, Doppeldenk und insbesondere seine schädliche Konsequenz, nämlich Böses im Namen des Guten zu tun, zu erkennen. Wir können uns immer wieder vor Augen führen, wie wahnsinnig eine in Gut und Böse getrennte Welt ist. Wir können uns die Kriegsmentalität abgewöhnen, die diese Trennung aufrechterhält.
Aber der Bruderschaft beizutreten, ist nicht das Ergebnis einer mentalen Übung. Der menschliche Verstand wird die Welt immer in Kategorien und Bedeutungsbereiche aufteilen. Das müssen wir akzeptieren. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kraft anderen Aspekten des sozialen Wesens ihre Souveränität raubt.
Übersetzt von Janet Klünder, korrekturgelesen von Vanessa Gross und Ingrid Suprayan. Die englische Originalfassung dieses Textes wurde am 21. Dezember 2022 veröffentlicht und ist hier zu finden.
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