Jede Zeit hat ihre Störungsbilder: Früher waren Frauen hysterisch, heute nehmen Demenzen zu. Krankheiten halten sowohl uns persönlich als auch unserer Gesellschaft den Spiegel vor. Ein Versuch, Demenzen gesellschaftskritisch zu beleuchten – und eine gewagte Hypothese. Die Samstags-Kolumne.

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Die Diagnose war ein Schock und kam unerwartet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Doch rückblickend betrachtet wären die Zeichen zu erkennen gewesen: Ausfälle und Verhaltensänderungen deuteten darauf hin, dass sich bei unseren Eltern eine Demenz anbahnte. Die Krankheit galt als unheilbar und progressiv. Es war der Anfang eines Abschieds in Raten, eines zunehmenden Zerfalls stolzer Persönlichkeiten zu völliger Hilflosigkeit und eines Rückzugs in eine eigene Welt,  die uns Angehörigen verschlossen blieb. Wir konnten dem Abbau nur machtlos zusehen und liebevoll-beruhigend präsent sein.

Jede Epoche hat ihre spezifischen Krankheiten. Da Demenzen  in unserer Gesellschaft markant zunehmen, interessiert mich als Psychologin, welche Bedeutung dies für unsere Zeit haben könnte. Früher, als Frauen in enge Korsetts von Kleidern und Verhaltensnormen gezwängt wurden, waren hysterische Ohnmachtsanfälle weit verbreitet und spiegelten die vermeintliche Schwäche und Hilflosigkeit der Frauen dieser Zeit wider. Mit der zunehmenden Emanzipation wurden sich die Frauen ihrer Stärke bewusst und fanden Wege, sich durchzusetzen. Das Krankheitsbild erübrigte sich und verschwand, um neuen Störungen zu weichen.

Betrachten wir einige Symptome von Demenzen, so fällt eine zunehmende räumliche und zeitliche Desorientierung auf, sowie der Verlust von Gedächtnis, Erinnerung und dem Wissen um die eigene Persönlichkeit. Zeichen, die wir auch in unserer heutigen Gesellschaft finden:  Werte, die einmal klar waren, werden bis zur Auflösung hinterfragt, und es fällt zunehmend schwer, sich in einer Überfülle von Meinungen, Weltbildern und materiellen Waren zurechtzufinden. Viele Menschen flüchten in Ablenkungen, überlassen das Denken den politischen, wissenschaftlichen und geistigen Führern und verlernen so das eigene Denken. Es wird schwierig, Struktur und Sinn zu finden.

Werte, die einmal klar waren, werden bis zur Auflösung hinterfragt.

Demente zeigen zu Beginn oft eine kindliche Haltung, sind erfrischend direkt und ehrlich, doch am Ende vegetieren sie nur noch überangepasst-fügsam und schweigend dahin. Ihre Persönlichkeit zerfällt immer mehr, wird ausgelöscht, so wie in unserer Gesellschaft das Individuelle durch eine gruppenspezifische  Gleichschaltung und Uniformierung des Denkens und Handelns nivelliert wird. Der demente Mensch lässt sich im Endstadium leicht steuern und gleicht in einer karikierten Form dem angepassten Menschen unserer Leistungskultur, der möglichst nur funktionieren soll, ohne das wirtschaftliche Getriebe zu stören. Und da die künstliche Intelligenz zunehmend unser eigenständiges Denken übernehmen soll, bleibt immer weniger Bedarf für das störungsanfällige menschliche Denken. Die Gesellschaft soll funktionieren, ohne gross zu reflektieren und den Geldfluss unnötig zu behindern. Dies  passt zur Gettoisierung und Abschiebung der «nutzlosen» alten Menschen, die am Ende nur noch sinnlos vor sich hindämmern können.

Doch es gibt Hoffnung. Der Neurobiologe Gerald Hüther hat Faktoren ausgemacht, die den Hirnabbau verhindern und sogar schon vorhandene Defizite entschärfen können. Hilfreich ist, wenn Menschen nicht wie Objekte behandelt werden, verstehen, was auf der Welt geschieht, und gestaltend auf sie einwirken können. Zudem brauchen gerade auch alte Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihren Mitmenschen und das Erleben, dass sie in ihrer Einzigartigkeit und mit ihrer Lebensweisheit sinnvoll wirken können.

Menschen, die seit langem nur noch schwiegen, haben plötzlich wieder gesprochen.

Natürlich haben Demenzen, anders als die Hysterie, organische Entsprechungen und sind nicht nur psychisch bedingt. Allerdings sollten wir hier unser rein materialistisches Weltbild hinterfragen. Die Überzeugung, dass zerstörte Hirnzellen zwingend mit einem Leistungsabbau des Gehirns einhergehen müssten, ist noch immer weit verbreitet. Jedoch haben Studien gezeigt, dass demenztypische Zerstörungen bestimmter Hirnareale nicht erzwungenermassen mit kognitiven Leistungseinbussen einhergehen müssen, da andere Teile des Gehirns die Funktion der zerstörten Zellen übernehmen.

Ein Eindruck, was möglich ist, wenn dementen Menschen mit Achtung und wertschätzender Offenheit begegnet wird, habe ich selber im Rahmen eines «Timeslips»-Coachings im Zürcher Kunsthaus miterlebt: Dabei durften die dementen Menschen Assoziationen zu einem Bild frei und spontan fliessen lassen. Ihre Inputs wurden von «Timeslips»-Coaches zu einer Geschichte verwoben und immer wieder weitererzählt. Menschen, die seit langem nur noch schwiegen, haben plötzlich wieder gesprochen und aktiv mitgemacht. Dies war möglich, weil jede Aussage wertschätzend und als bereichernder Beitrag aufgenommen wurde und zu einer sinnstiftenden Geschichte beitrug.

Wäre mir dies während der Erkrankung meiner Eltern bekannt gewesen, hätte ich sie anders begleitet und vielleicht verhindert, dass sie mit ihrem Abbau die erwarteten Vorgaben der Medizin erfüllen würden. Mir bleibt zu hoffen, dass unsere Gesellschaft aus ihrer «rationalen Demenz» aufwacht, indem sie die materialistische Weltsicht überwindet und den Sinn der ganzheitlichen Herzintelligenz wiederfindet. Denn dies ermöglicht eine ganzheitlichere Orientierung in unserer komplexen Gesellschaft, gibt ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und befreit Menschen und Tiere aus ihrem Objektstatus. 

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Mirjam Rigamonti

 

 

 

Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.

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Kommentare

Danke...

von cld

... für die gewagten und schönen Gedanken!