«Die USA machen Druck auf die Schweiz»

René Roca hat den «Aufruf von Linken und Grünen: Ja zur Neutralitätsinitiative» mitverfasst. Ein Grund für den Abbau der Neutralität ortet er in US-Wirtschaftsinteressen. 

Dass die Schweiz bei den Sanktionen gegen Russland umgeschwenkt sei, habe, so eine Quelle, mit US-Drohungen zu tun. Sagt René Roca. (Bild: shutterstocks)

 

Zeitpunkt: Herr Roca, Neutralität ist für Sie eine Herzensangelegenheit. Sie haben mit Ihrer Frau Elfy Roca einen Brief an den Bundesrat geschrieben, der in «Global Bridges» veröffentlicht wurde. Darin fordern Sie den Bundesrat auf, die Richtlinien unserer neutralen Schweiz wieder einzuhalten. Wie war die Reaktion auf diesen Brief?

René Roca: Leider bescheiden. Der Bundesrat hat mit keinem Wort reagiert. Der Aufruf ging auch an das gesamte neugewählte Parlament (National- und Ständerat). Auch von dieser Seite erhielten wir keine Reaktionen. In den Mainstream-Medien wurde der Aufruf weder erwähnt noch wurde daraus zitiert. Allerdings wurde immerhin die Rolle der Schweiz als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat endlich kritisch hinterfragt.  

Sie sind auch Mitglied des Komitees der Neutralitätsinitiative. Wie kam die Idee, die Neutralität in der Verfassung verankern zu wollen, zustande?

Ich hatte eine Schrift zur Neutralität verfasst und an einige Leute verschickt. So bin ich mit dem Doyen der Schweizerischen Volkspartei (SVP), Christoph Blocher, ins Gespräch gekommen. Schnell war uns klar, dass wir eine Neutralitätsinitiative starten wollten, um den Abbau unseres schweizerischen Staatsprinzips entgegenzuwirken. 

Ich und andere haben versucht, bei den Grünen und Linken Mitglieder für das Komitee zu gewinnen, aber leider war das vergeblich. Sie wollten nicht gemeinsam mit der SVP nahestehenden Mitgliedern für die Sache einstehen.

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Vor einigen Tagen kam der Aufruf von Linken und Grünen: Ja zur Neutralitätsinitiative zustande, dessen Mitverfasser Sie sind. Sind Sie selber Mitglied der Grünen oder der SP?

Ich bin parteilos, war als solcher während 16 Jahren Gemeinderatsmitglied in einer kleinen Gemeinde, aber fühle mich dem linksliberalen Gedankengut nahe. Ich habe seinerzeit bei der Konzernverantwortungsinitiative mitgewirkt. Ich stehe für den Pazifismus ein. Ein Pazifismus allerdings, der klar hinter der «bewaffneten Neutralität» steht. So könnte die Schweiz am besten für den Frieden wirken. 

Wie war das Echo auf den «Aufruf der Grünen und Linken»?

Leider wurde auch er nur von wenigen Online-Zeitschriften erwähnt. Aber immerhin, wir hoffen auf weiteren Support. Nun bekommt Professor Pascal Lottaz – er hat in Kyoto in Japan einen Lehrstuhl für Neutralität inne –, die Gelegenheit, Artikel zu publizieren. Lottaz gehört zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs.

Es ist schon erstaunlich, dass es in Japan einen Lehrstuhl für Neutralitätsstudien gibt. In der Schweiz sucht man nach Ähnlichem vergeblich.

Ich selber habe eine Habilitationsschrift zur Geschichte der schweizerischen direkten Demokratie geschrieben. Sie stiess leider nicht auf das entsprechende Echo. 

Wie steht es mit Parlamentariern der Linken oder Grünen? Möchten Sie mithilfe Ihres Aufrufs mögliche Unterstützer für Ihr Anliegen gewinnen?

Um ehrlich zu sein: Für mich versagen sowohl Linke als auch Grüne in Sachen Neutralität völlig. Sie scheinen, wie auch unsere Bundesrätin Viola Amherd, eine NATO-Mitgliedschaft anzustreben. Alles, was transatlantischen Bestrebungen entgegensteht, wird von diesen Leuten als rechts oder rechtsextrem angesehen.

Auch die anderen Parteien unterstützen unser Anliegen nicht. Selbst die SVP ist gespalten. Sie sprechen davon, dass man bei Putin hart bleiben oder die Hamas verbieten muss. In den Unterlagen für die Wahlen im Herbst haben die Parteien die Neutralitätsinitiative mit keinem Wort erwähnt.

Zum Glück haben nun viele Linke und Grüne – die meisten haben kein politisches Amt inne – unseren «Aufruf» unterstützt.

Diese Ausweitung der politischen Unterstützung nach links ist sehr wichtig, damit wir schlussendlich auch die Abstimmung über die Neutralitätsinitiative gewinnen können.

Wie erklären Sie sich, diese Anfälligkeit auf US-Propaganda? Viele der Kriege, in denen die EU und jetzt auch die Schweiz, Hand bieten, nutzen letztlich US-Wirtschaftsinteressen.

Einer der Gründe liegt sicher in unseren Medien, die fast alle den transatlantischen Kurs verfolgen. Ich unterrichte in Basel als Gymnasiallehrer. Ich bin froh, dass meine Schüler und Schülerinnen keine Zeitungen lesen. Mit ihnen erarbeite ich jeweils sorgfältig die Vorgeschichte von Kriegen und wir überlegen uns, was es braucht für einen nachhaltigen Frieden.

Gibt es materielle Gründe, wieso sich die Schweiz aussenpolitisch nicht mehr neutral verhält? Sind unsere Banken, ist unsere Industrie abhängiger vom Ausland als zuvor?

Informationen einer verlässlichen Quelle lassen vermuten, wieso der Bundesrat in Sachen Sanktionen gegen Russland umgeschwenkt ist. In den ersten Wochen nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Krieges am 24. Februar 2022 hatte der Bundesrat die Sanktionen gegen Russland nicht mitgetragen. Laut dieser Quelle soll von Seiten der USA massiv Druck auf die Schweiz ausgeübt worden sein. Wenn die Schweiz die Sanktionen nicht mittrage, so hiess es, wäre der Schweizer Bankensektor gefährdet sowie das US-Geschäft insgesamt. 

Ist die Tatsache, dass die Schweiz die EU-Wirtschaftssanktionen mitvollzieht, ein Tabubruch?

Das würde ich so nicht sagen. Seit dem Ende des Kalten Krieges beobachte ich in der Schweiz einen langsamen Abbau der Neutralität. Mit dem Abbau der Neutralität akzeptieren immer weniger Länder die Schweiz als Vermittlungspartnerin in Friedensgesprächen. Auch Putin hat die Schweiz als Friedensverhandlungspartnerin zurückgewiesen, auch jetzt wieder im Zuge des Weltwirtschaftsforums in Davos.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass bis zum Sammelschluss am 8. Mai die nötigen 100 000 Unterschriften für die Neutralitätsinitiative zusammenkommen?

Ich bin mir sicher, dass wir das Sammelziel erreichen. Es braucht jetzt aber einen letzten Effort, um die nötigen Unterschriften zusammen zu bringen. Dann wird es spannend, wie der Bundesrat und das Parlament sich verhalten. Ich freue mich auf den Abstimmungskampf und die Debatten, die absolut nötig sind, damit die Schweiz als neutraler Staat wieder aus einer Position der Stärke zum Wohle des Friedens wirken kann.

 

René Roca,

Historiker, aus Oberrohrdorf AG, gründete 2006 das «Forschungsinstitut direkte Demokratie», in dessen Rahmen er Tagungen und Konferenzen veranstaltet. Er habilitierte zum Thema «Entstehung und Entwicklung der schweizerischen direkten Demokratie».


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