Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen

Warum Lagerdenken und die Schwarz-Weiss-Malerei unproduktiv sind, was die Neutralitätsinitiative bringt und wie wir in der Schweiz das Tor zu jener informierten und weltoffenen Besonnenheit öffnen, von der nicht nur besonnene Alt- und NeuschweizerInnen, sondern auch system- und strukturblinde Alt- und NeuschweizerInnen träumen. Erster von drei Teilen.

Foto: Odin Aerni

In Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat Bundesrat Ignazio Cassis im Frühjahr 2022* zusammen mit den drei Frauen im Bundesrat, die tradierte schweizerische Neutralität versenkt. Diese war allerdings seit längerem bedroht und zwar aus vielschichtigen Gründen. Hier nur einige davon:

• Kritik an der Neutralität gab es seit dem Zweiten Weltkrieg: Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten brachten den Verdacht auf, die Schweiz sei eine Kriegsgewinnlerin.
• Seit 1945 hat die Schweiz sich stark verändert: Das grenzenlose Weltwirtschaften hat unserem Land neue Abhängigkeiten und ein Übermass an Komplexität gebracht. Ein Tohuwabohu, das nicht nur die Parteien und die Stimmbürgerschaft, sondern oft auch den Staat überfordert.
• Durch die Einwanderung hat sich die Bevölkerung seit 1945 nahezu verdoppelt: Multikulturalisiert und globalisiert, nimmt der Anteil an NeuschweizerInnen in der Stimmbürgerschaft rasch zu. Viele sind heute – direkt oder indirekt – mit dem Ausland verbunden und haben inzwischen zwei oder sogar noch mehr Pässe.
• Die Parteien sind zersplittert. Alt- und Neulinke verstehen sich nicht: Erstere sind systemkritisch, letztere, je nachdem, an individuen-zentrierter Sensibilität oder Empfindlichkeit orientiert. Grüne und Grünliberale stehen in Konkurrenz, wollen aber genauso weiterwachsen wie die SVP, die Alt- und Neoliberalen – erstere national-territorial orientiert, letztere an der Hyperglobalisierung interessiert.
• Zu unguter Letzt: Früher waren politische Ämter an Strukturen und damit verantwortungsethisch an- und eingebunden, heute werden sie oft als persönliche Rolle interpretiert** entsprechend gesinnungsethisch eingefärbt und publikumswirksam zelebriert.

Was tun in solch vertrackter Situation? – ein paar Vorüberlegungen:

– Zuerst, was wir ganz und gar nicht brauchen können, ist «Groupthink»¹.
Gruppendenken hat sich bereits in der Corona-Krise angekündigt: Es kommt auf, wenn Menschen Angst haben oder verunsichert sind. Dann nehmen Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken überhand, die Eigengruppe wird idealisiert, Andersdenkende und Fremde werden dämonisiert; es gilt nur noch das Entweder-Oder: Das sind alles Erlebens- und Verhaltensmuster, die mit Realitätsverzerrungen verbunden sind und die zu gravierenden Fehlentscheidungen führen.

– Was wir stattdessen dringend brauchen, ist ein Grundkonsens.
Ein Grundkonsens über die zentralen staatspolitischen Institutionen – und dazu gehören in der Schweiz die Neutralität und die Direkte Demokratie.

Die Direkte Demokratie gibt den StimmbürgerInnen die Möglichkeit, über wichtige Gesetze und Sachgeschäfte direkt und eigenständig zu entscheiden. Beides setzt Sachkenntnisse und Sachverstand voraus, aber auch ein besonderes Verhältnis der BürgerInnen zu ihrem Staat und zu ihren MitbürgerInnen. Denn lebendig bleibt die Direkte Demokratie nur auf der Basis von «Politischer Fairness».

Diese schliesst ein: 
• die Pflicht zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung,
• den Mut, parteienübergreifend und kontrovers miteinander zu debattieren,
• den Respekt, der allen zukommt – auch dem politischen Gegner.
Das ist der Boden, auf dem die Direkte Demokratie auch künftig funktionieren und unser Land samt seiner politischen Kultur in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen bestehen kann. 

In diesem Sinn will ich im Folgenden über die schweizerische Neutralität nachdenken. Nicht ihre staatspolitischen Regeln und Implikationen werde ich fokussieren, sondern jenen Aspekt der Neutralität ins Zentrum stellen, der unserem Land Besonnenheit bringt.

Zur Neutralitäts-Initiative
«Neutralität» – eine unparteiische Haltung in internationalen Konflikten – beinhaltet das Verhältnis der Schweiz zu sich selbst und zur übrigen Welt: Nicht nur zu Europa und zum Westen, sondern zu jener weit grösseren «Restwelt», deren Bedeutung und numerisches Gewicht rasch zunimmt.

Weil derzeit die tradierte Neutralität der Schweiz von innen und von aussen bedroht ist, hat Altbundesrat Blocher eine Initiative angestossen. 
Konzipiert aber wurde die Neutralitäts-Initiative von einer parteien-übergreifenden Gruppe und zwar so, dass Herr Blocher weit – sogar sehr weit! – über seinen eigenen Schatten springen musste. Zu diesem Wagnis sei ihm herzlich gratuliert.

Nur kurz zu dem, was von der tradierten Neutralität bewahrt werden soll. Wie bisher hat die Schweiz eine bewaffnete Neutralität mit einer Armee zur Selbstverteidigung. Sie beteiligt sich weder an Kriegen noch an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen und sie tritt auch keinen Militärbündnissen bei. Aber ganz und gar UNO-konform trägt sie jene Sanktionen mit, welche die UNO verhängt.

Doch jetzt zum Neuen an der Initiative: Sie beinhaltet eine zukunftsweisende Chance für unser Land. Da heisst es nämlich: 

Die Schweiz nutzt ihre Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.


Dieser Passus ist ein Segen! Und so wichtig, dass er aus zwei Gründen Verfassungsrang braucht: Zum einen kann auf dieser Basis das Internationale Rote Kreuz weiterhin seine Arbeit machen:
• auf beiden Seiten eines Kriegsgeschehens die Opfer unterstützen,
• das Los der Flüchtlinge erleichtern
• Menschen in aller Welt vor staatlicher Willkür schützen.

Zum andern aber geht dieser Passus weit darüber hinaus: Die offizielle Schweiz wird dazu verpflichtet, sich aktiv für den Frieden zu engagieren. Denn die integrale Neutralität, die dem IKRK seine Arbeit ermöglicht, vermag das nicht. Deshalb soll unser Land künftig konfliktlösende und friedensstiftende Institutionen schaffen und anbieten. Gleichzeitig werden unsere «StaatsträgerInnen» an ein Amt gebunden, das sie verfassungsgemäss und auf verantwortungsethischer Basis zu erfüllen haben. Damit wird – hoffentlich! – auch in der Schweizer Bevölkerung wieder jene Besonnenheit möglicht, die für das gelingende Zusammenleben unverzichtbar ist – hierzulande und weltweit.

Gestützt auf dieses neue Neutralitätsverständnis wird die Schweiz zu einem weltoffenen Land: Zu einem Staat, in dem der Bundesrat, die Behörden und die BürgerInnen künftig lernen können, was nicht nur sie, sondern auch was andere brauchen, damit auf unserem Planeten ein gemeinsames und friedliches Überleben möglich wird. Denn dazu reicht die individualistische Optik, wie sie die liberale Ideologie vorgibt, nicht aus. 

Stattdessen sind – realitätsadäquat – sowohl die vorhandenen Ressourcen und der energetisch-technologische und juristische Machtapparat mitzudenken als auch die sozial konstruierte Wirklichkeit: die Institutionen und die verbindlichen Rollen, auf denen alle Gesellschaften seit je und je und überall basieren. Auch wenn die konkrete Ausformung dieser gesellschaftlichen Parameter zeit- und kontextspezifisch unterschiedlich und in der ungleichen Weltwirtschaft sogar oft konfliktiv sind – in ihnen steckt der Schlüssel zum Überleben.

Diesen neuen Spross habe ich «die Neutralität der Besonnen» getauft. Besonnenheit braucht unser kleines Land, brauchen der Bundesrat, die Bundesbehörden und die StimmbürgerInnen, wenn in der Schweiz die Direkte Demokratie und der interne Frieden erhalten bleiben sollen. Besonnenheit braucht aber auch die grosse Welt – und zwar in Ost und West sowie in Süd und Nord soll die Menschheit künftig auf sozial und ökologisch nachhaltiger Basis überleben.

Was aber meint Besonnenheit?
Laut Wikipedia ist es jene überlegte Gelassenheit, die sich in schwierigen Situationen ausreichend Verstand bewahren kann, so dass es zu keinen vorschnellen und unüberlegten Entscheidungen und Taten kommt. Während Besonnenheit auf den rationalen Aspekt verweist, fokussiert Gelassenheit den emotionalen: eine innere Ruhe – trotz Tohuwabohu und Ambivalenzen!

In meiner eigenen Diktion setzt Besonnenheit «Ambiguitätstoleranz» voraus: die Bereitschaft, Licht und Schatten zusammenzudenken. Das gilt für den eigenen Lebensstil, aber auch für die Moral². 

Denn Moral ist zwar nötig, aber leider auch schrötig. Nötig ist sie, weil Menschen ohne Moral nicht konstruktiv zusammenleben können. Schrötig ist sie, so lange ihre Schatten ausgeblendet werden – z.B. die weltweite Ungleichentwicklung und der Überkonsum in unserem Land.

Gleichzeitig ist mit dem neuen Neutralitäts-Passus die Gefahr gebannt, dass die Schweiz – vor lauter Besonnenheit – gar nicht handelt. Im Gegenteil: Die Schweiz handelt! Aber nicht kriegerisch, sondern am Ausgleich orientiert und auf Dienste verpflichtet, die Konflikte verhindern und lösen helfen.

Doch nicht nur die Schweiz, auch die grosse Welt ist auf mehr Besonnenheit angewiesen. Ich will diese Behauptung mit einem Blick nach aussen und mit einen nach Innen, in die Schweiz hinein, unterlegen.

Zuerst der Blick hinaus über die Zäune unseres Nationalstaats.

Weshalb ist die grosse Welt – mehr denn je – auf Besonnenheit angewiesen?
«Earth4all»³, die Folgeschrift auf «Die Grenzen des Wachstums», die Meadows vor 50 Jahren verfasst hat, listet fünf4 Probleme auf, für deren Lösung es eine ausserordentliche Kehrtwende braucht. Ich greife hier nur die zwei dringlichsten auf: Zum einen die klimatische und ökologische Bedrohung in Form der Klimaerwärmung und sinkenden Biodiversität; zum andern die soziale Bedrohung: Die gewaltigen Ungleichgewichte zwischen arm und reich. Die beiden Probleme sind dramatisch miteinander verknüpft und Earth4all prognostiziert: «Wenn wir unseren derzeitigen ökonomischen und politischen Kurs beibehalten, steuern wir auf eine weiter wachsende Ungleichheit zu.» Das löst soziale Spannungen aus, gesellschaftliche Zusammenbrüche, Kriege.
«Diese Faktoren tragen (...) zu inadäquaten Antworten auf den klimatischen und ökologischen Notstand bei»(5).

Kurz: Wir stecken in einem Teufelskreis, den wir uns nicht länger leisten können!
Ein Teufelskreis, den ich seit langem (6) – oft verzweifelt, bislang aber vergeblich – anmahne. Vielleicht greife ich ja nach einem Strohhalm? Doch nur keine unnötige Sorge! Auch mir ist klar, dass die kleine Schweiz die Welt nicht retten kann.

Was unser Land aber kann: Zum gelingenden Gang der Dinge beitragen.
Fakt ist: Kriege innerhalb und zwischen Staaten verunmöglichen, dass an der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann. Kriege bewirken, zumindest kurz- und mittelfristig, das pure Gegenteil davon. Der Ukrainekrieg ist nur eines von vielen Beispielen dafür: ein Konflikt, der nota bene nicht erst 2022, sondern bereits 2014 begonnen hat. Konflikte zu verhindern und zu lösen, wird deshalb dringender denn je. Und das schreibt die Neutralitätsinitiative der Schweiz in die Verfassung: Die Schweiz soll zu mehr Besonnenheit in der grossen Welt beitragen!

Weshalb aber gebietet Besonnenheit der Schweiz, NICHT der NATO beizutreten?
Eine weltoffene Schweiz schlägt sich nicht auf die Seite der westlichen Grossmächte. Wer genau hinsieht, der weiss, dass die USA und andere NATO-Staaten seit Dekaden Kriege führen. Allein die USA haben seit 1991 251mal militärisch (7) interveniert und zwar oft völkerrechtswidrig und stets mit gravierenden Schäden für die dortigen Menschen und deren Umwelt. Und horribile dictu: Es sind Kriege, die zunehmend im Namen der Menschenrechte bzw. der westlichen Werte und der Moral geführt werden.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass es sich nicht um Moral handelt, sondern um system- und strukturblindes Moralisieren. Denn soll unser Urteil über eine Moral – präziser: über eine spezifische gesellschaftliche Moralität – ethischen Kriterien genügen, so haben wir den Zugriff auf die Ressourcen in Rechnung zu stellen, mit dem die beurteilte Gesellschaft ihren Mitgliedern das Überleben sichern kann. Und dieser Zugriff fällt systematisch aus dem westlichen Wahrnehmungsraster hinaus – aus dem liberalen und dem neoliberalen.

Weil die USA für ihren Lebens- und Rechtsstandard derzeit sechs Planeten, die Schweiz immerhin noch drei vernutzen, stellen sich viele Fragen: Wozu misst der Westen die restliche Welt an seinem eigenen Lebensstandard, obwohl der mit massivem Überkonsum verbunden ist? Und warum massen sich ausgerechnet jene, die viel zu viel beanspruchen und die viel zu viel verbrauchen, an, den andern zu sagen, was rechtens ist und wo es künftig lang gehen soll? 

Wird damit nicht zweierlei ausgeblendet? 
Erstens die Verbindung, die zwischen wirtschaftlichen Strukturen einerseits, rechtlichen und sozialen Leistungen andererseits besteht? 
Zweitens, dass der Westen seinen Lebensstandard und Überkonsum nur halten kann, so lange er über mehr Kapital, den besseren energetisch-technologischen Machtapparat, das überlegene juristische Instrumentarium verfügt? 


Der zweite Teil der Serie folgt am kommenden Dienstag.


 

Anhang

 

* NZZ 20.03.2022, Erich Aschwanden: «Bundespräsident Ignazio Cassis hat sich vorführen lassen wie ein Schuljunge» – SVP schäumt wegen Auftritt bei Ukraine-Demonstration

** NZZ 06.04.2022, Samuel Tanner: «Ich persönlich» oder wie die Bundesräte mit Einzelaktionen den Bundesrat schwächen

 

1 https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/gruppendenken In der Entscheidungsforschung von Janis (1971) eingeführt, um damit das Zustandekommen unangemessener und fehlerhafter Entscheidungen in Gruppen zu erklären.
2 Ich spreche hier - vereinfachend – von Moral, weil sie unter dieser Bezeichnung in den Köpfen und Herzen der einzelnen Individuen und Subgruppen spukt. Aber in komplexen Gesellschaften müsste begrifflich differenziert werden: Erstens wären die persönliche oder individuelle Moral und die gesellschaftliche Moralität auseinanderzuhalten, also das, was in einer spezifischen Gesellschaft mehrheitlich als die richtige Moral gilt, zweitens, wären die Moralität und die jeweils verfestigten Rechtsformen zu unterscheiden. Diese legen Normen fest, deren Brüche formell sanktioniert werden. Das wiederum – je nach Urteilsspruch – mehr oder weniger verbindlich.
3 Sandrine Dixson-Declève, Owen Gaffney, Jayati Ghosh, Jørgen Randers, Johan Rockström, Per Espen Stocknes: Earth for All: A survival guide for humanity. 2022.
4 Die anderen drei Kehrtwenden sind laut Earth for All: Ermächtigung der Frauen; ein für die Menschen und Ökosysteme gesundes Nahrungsmittelsystem; der Einsatz von sauberer Energie
5 Ibd: 2022: 14
6 Wege gegen die Ausländerfeindlichkeit, Wirtschaftswissenschaftliches Institut der Universität Basel1992.
http://kernkultur.ch/resources/Lieblingsreferate/Wege_Auslaenderfeindli… Nachdenken über die zunehmende Einwegmigration: Zur Quadratur des Kreises (In: VHS-Bulletin N. 4, November 2015: 42 – 52 oder: http://www.kernkultur.ch/resources/Artikel/Zur_Quadratur_des_Kreises.pdf
7 Congressional Research Service: Instances of Use of United States Armed Forces Abroad, 1798 – 2022. Updated March 8, 2022.