Ohne Vertrauen fährt die Welt zur Hölle
Das diesjährige World Economic Forum in Davos steht unter dem Motto «Rebuilding Trust». Klingt gut. Reden wir über Vertrauen. Und darüber, wie es verloren ging.
Niemand kann alles und jeden kontrollieren. Ohne Vertrauen fährt die Welt zur Hölle. Das wissen auch die globalen Eliten, die sich Mitte Januar wieder am WEF in Davos treffen.
Wofür stehen diese Eliten, deren Ruf in weiten Teilen der Bevölkerung nach etlichen Krisen reichlich gelitten hat? Die WEF-Eliten verstehen sich als Hüter der liberalen Gesellschafts- und Weltordnung. Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist man sich im Westen einig, dass der Liberalismus alternativlos ist. Die historischen Ereignisse des späten 20. Jahrhunderts legten diese Schlussfolgerung durchaus nahe. Offensichtlich konnte sich die kommunistische Planwirtschaft im jahrzehntelangen Wettbewerb mit der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht durchsetzen. Die freie Marktwirtschaft ist alles andere als perfekt, aber ihr Überleben gab dem Westen recht.
Eigentlich eine gute Sache
Erfolg hat eine natürliche Anziehungskraft. Er verschaffte dem Westen auf der Weltbühne eine komfortable Ausgangslage. Wer als Erfolgsmodell wahrgenommen wird, muss nicht viel tun, um Fans und Nachahmer zu finden. Ein angenehmes Leben ohne materielle Not, sprich eine prosperierende Konsumgesellschaft, in der es der grossen Mehrheit gut geht, findet fast überall Anklang.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Wohlstand ist universal. Niemand will darben und unterdrückt werden. Die liberale Gesellschaftsordnung hätte mit ihrem Erfolgsausweis leicht zum globalen Standard werden können – ohne Missionierung, ohne Gewaltandrohung, ohne Kriege. Wobei zu beachten ist, dass der Erfolg dieses Modells auch dank der hemmungslosen Ausbeutung von Arbeitskräften und Rohstoffen in den Entwicklungsländern sowie dank der Einbettung der freien Marktwirtschaft in einen soliden Sozialstaat möglich war.
Erinnern Sie sich noch an die Eckpfeiler des Liberalismus? Hier ein Auszug aus Wikipedia:
- Der Liberalismus befürwortet eine Gesellschaft, die auf der Freiheit des Einzelnen, der Wahrung des Rechts, Pluralismus und freiem Gedankenaustausch basiert.
- Die freie Äusserung aller Ideen und Interessen ermöglicht einer Gesellschaft, dass sich die besten Ideen durchsetzen. Im wirtschaftlichen Bereich befürwortet der Liberalismus Eigeninitiative, den freien Wettbewerb und die damit verbundene Marktwirtschaft.
- Im politischen Bereich wird ein Staat gefordert, der Gesetze durch freie Debatten verabschiedet und durch gegenseitige Gewaltenteilung geregelt ist. Das bedeutet im Idealfall einen demokratischen Rechtsstaat, in dem Minderheiten bis hin zur kleinsten Einheit, dem Individuum, respektiert werden.
- Der Staat ist der Garant für die Rechtsordnung und muss für sein Handeln Rechenschaft ablegen. Er akzeptiert gesellschaftlichen Pluralismus und sozialen Wandel.
Jetzt wird´s interessant: Was ist davon noch übrig im Jahr 2024?
- Wahrung des Rechts? Korruption ist menschlich.
- Pluralismus? Wurde ersetzt durch Moralismus und Woke-ismus.
- Freier Gedankenaustausch? Nur auf eigene Gefahr!
- Freie Äusserung aller Ideen und Interessen? Immer willkommen, wenn sie monetär verwertbar sind.
- Eigeninitiative? Okay, wenn sie nicht zu disruptiv wird.
- Freier Wettbewerb? Lieber Konzernkartelle – am liebsten Monopole.
- Durch freie Debatten vom Staat verabschiedete Gesetze? Erst wenn die Konzernlobbys im Hinterzimmer den Text geschrieben haben.
- Gewaltenteilung? Ausnahmen bestätigen die Regel.
- Respektierte Minderheiten? Okay, solange die Mehrheit nicht respektiert werden muss.
- Ein Rechenschaft ablegender Staat? Wozu – nur Regieren zählt.
- Sozialer Wandel? Weniger Mittelstand tuts auch, solange es mehr Prekariat gibt.
Der Liberalismus WAR eigentlich eine gute Sache...
Die doppelte Pervertierung
... doch dann ereigneten sich zwei Katastrophen:
Katastrophe 1: Der Liberalismus wurde durch den angelsächsischen Neoliberalismus ersetzt (Reagan, Thatcher). War früher die freie Marktwirtschaft im Sozialstaat eingebettet, ist heute der Sozialstaat in der freien Marktwirtschaft eingebettet. Will heissen: Die Staaten richten sich nach den Bedürfnissen des globalisierten Kapitals.
Katastrophe 2: Die liberale Weltordnung wurde nach 9/11 durch die neokonservative Weltordnung der USA ersetzt (George W. Bush). Will heissen: Wer nicht mit den USA kooperiert, muss mit Sanktionen und Schlimmerem rechnen. Die EU vertritt Washingtons Interessen im europäischen Binnenmarkt, der nach immer mehr Territorium giert.
Die Welt ist voller Vertrauenslücken
Über die diversen Folgen dieser Katastrophen wurde und wird im «Zeitpunkt» regelmässig berichtet und debattiert, weshalb ich hier nicht weiter darauf eingehe. Essenz: zerstörtes Vertrauen überall – zwischen Staaten, zwischen Bürgern und Politikern, zwischen Bürgern und Medien, zwischen Bürgern und Migranten. Die Welt ist voller Vertrauenslücken!
In diesem Klima des kollektiven Misstrauens verliert die Gesellschaft westlicher Prägung langsam, aber sicher den Boden unter den Füssen. Diese Entwicklung ist höchst alarmierend, besonders für Demokratien. Menschen, die sich schutzlos ausgeliefert fühlen, tendieren zu aggressivem Verhalten und extremen Positionen. Der Ton wird schriller, die Fronten verhärten sich. Es wird in dieser konfrontativen Stimmung immer schwieriger, Konflikte und Probleme konstruktiv zu lösen und Kompromisse zu schliessen. Damit verliert jede Demokratie ihr Lebenselixier. Krieg und Chaos stehen am Ende dieser Entwicklung.
WEF-Ziel goldrichtig
Das WEF formuliert folgendes Ziel für ihre aktuelle Veranstaltung: «Um ein gewisses Mass an kollektiver Handlungsfähigkeit zu schaffen, muss damit begonnen werden, das Vertrauen auf drei grundlegenden Ebenen wiederherzustellen: in die Zukunft, innerhalb von Gesellschaften und zwischen Nationen.»
Mit dieser Zielsetzung liegt das WEF unbestritten goldrichtig. Und es bräuchte nicht einmal revolutionäre Massnahmen, um das Ziel zu erreichen. Vertrauensbildende Massnahmen könnten sein:
- Rückkehr zum echten Liberalismus (Wohlstand für alle)
- Glaubwürdige Demokratisierung und Emanzipierung der EU (Mitspracherecht für alle)
- Rückkehr zur hohen Kunst der Diplomatie (Frieden und Sicherheit für alle)
Erwartungsgemäss fokussiert das WEF auf Innovation, insbesondere KI. Dabei wäre gerade jetzt Nostalgie gefragt bzw. Rückbesinnung auf das Erfolgsmodell Liberalismus und eben nicht die Fortsetzung seiner katastrophalen Derivate.
Auch wenn die WEF-Eliten andere Pläne haben, so bleibt doch die Hoffnung, dass die universale Sehnsucht nach Freiheit und Wohlstand stark genug ist, um den destruktiven Kurs des Westens langsam aufzugeben und einen konstruktiveren Weg im Weltgeschehen einzuschlagen. Gerüchten zufolge sind auch Eliten lernfähig.
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