«PISA beschädigt die Bildung weltweit»

Zunächst galt PISA als Hoffnungsschimmer am Reformhorizont. Denn das «Programme for International Student Assessment» entfaltet Druck und zielt, so die Behauptung, auf mehr Qualität in Schule und Unterricht ab. Ein offener Brief internationaler Wissenschaftler an die OECD nährt nun Zweifel an diesem Bild: PISA verbessere nicht, sondern beschädige die Bildung weltweit. Jens Wernicke sprach darüber mit Prof. Wolfram Meyerhöfer, einem PISA-Kritiker der ersten Stunde.

Jens Wernicke: Herr Meyerhöfer, ein offener Brief mit Kritik an den PISA-Studien wandert gerade durch das Internet. Die OECD und PISA beschädigten die Bildung weltweit, heisst es darin. In Deutschland und anderswo werden Unterschriften gesammelt, um diese Kritik zu unterstützen. Was halten Sie davon?
Wolfram Meyerhöfer: Ja, PISA beschädigt Bildung und forciert die Zerstörung des öffentlichen Bildungssystems. Ja, PISA fokussiert Schule auf dümmliches Ankreuzen statt auf die ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Sache.

Einen Moment bitte. Leistungsmessung und «Orientierung am Stärksten» – das ist doch, was allerorten verordnet wird und angeblich stets hilft?
Nun, tatsächlich erfasst man mit standardisierten Tests ja eben nicht Leistungsstärke, sondern Teststärke. Und bei PISA ist diese tendenziell gegen das gerichtet, was ich als Mathematikdidaktiker als mathematische Bildung bezeichnen würde. Da gibt es keine Verstehensorientierung und keine ernsthafte Reflexion mehr. Stattdessen werden die Schüler in dümmlichen Kontexten lediglich darauf dressiert, vorgestanzte Antworten zu produzieren. Und im Deutschbereich dasselbe Spiel: Da wird schlicht jede Poesie zerstört und Literatur und Orthografie werden bis ins Groteske reduziert. Das rührt daher, dass die OECD mit PISA eben die Brauchbarkeit von «Humankapital» vermessen will, mehr nicht. Sie agiert hier insofern auch gegen die Interessen speziell der deutschen Wirtschaft, denn sie fokussiert auf mittelmässiges und stromlinienförmiges Denken. Das öffentliche Schulwesen hierzulande hat jedoch auch die Aufgabe, kreative Denker hervorzubringen. Und das geht nur ohne eine Fixierung auf eben diese Tests.

Trotzdem haben Sie den Brief an den PISA-Koordinator Schleicher nicht unterzeichnet. Warum nicht? Sie sind schliesslich ein PISA-Kritiker der ersten Stunde. Nach 15 Jahren Ruferei überwiegend in der Wüste scheint endlich etwas ins Rollen zu kommen.
Ja, ich könnte auch nahezu jedes Argument des offenen Briefes unterschreiben. Aber ich kann mich nicht dazu durchringen, dem OECD-Mitarbeiter Schleicher einen Brief zu schreiben und um «Reformen» beziehungsweise «Verbesserungen» zu ersuchen. Denn ich möchte den Arbeitsplatz von Herrn Schleicher schlicht abgeschafft sehen.

PISA soll komplett beendet werden?
Ja, das ist der einzige Weg, diesen Unsinn zu stoppen. Es geht schliesslich nicht darum, einen PISA-Zyklus auszusetzen und nachzudenken, was man aus PISA für Schlussfolgerungen ziehen kann und will. Aus PISA lässt sich nämlich nichts folgern. Schon vor 15 Jahren konnte man aus PISA nicht schliessen, dass man Bildung in Kindergärten machen muss, dass man das Einschulungsalter senken muss oder wie man besser unterrichtet. Das war und bleibt die Reformrhetorik derer, die versuchen, die OECD vor ihren Karren zu spannend und dabei gar nicht realisieren, wie diese es umgekehrt um so vieles brillanter tut und die Bildungssysteme weltweit zunehmend auf die Erzeugung von verkürzt gedachter Brauchbarkeit reduziert. Kurzum: Die Regierungen sollten das PISA-Abo endlich abbestellen.

Sollten sich Kritik und offener Brief Ihrer Meinung nach also viel mehr an die Bildungsminister richten?
Ja. Ich schreibe ja auch nicht dem Chefredakteur einer schlechten Zeitung, dass er seinen Lesern mal ein Jahr Denkpause geben soll, indem er die Zeitung ein Jahr aussetzt. Ich bestelle die Zeitung einfach ab. Und in einer Demokratie sind die Minister dazu da, das Boulevardblatt PISA abzubestellen.     

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Der offene Brief der Wissenschaftler an die OECD ist zu finden unter oecdpisaletter.org
Prof. Dr. Wolfram Meyerhöfer studierte Mathematik und Physik auf Lehramt (Sekundarstufe I/II) und ist Professor für Didaktik der Mathematik an der Universität Paderborn.
Jens Wernicke (*1977), studierte in Weimar Medien- und Kulturwissenschaften und arbeitete danach als Referent für Bildungs- und Hochschulpolitik für die Fraktion «Die Linke» im Hessischen Landtag. Kontakt: [email protected]