Remember Idomeni
oder: der Schneider von Damaskus
Es begann mit einer Jacke. Eine Freundin von mir erhielt sie als Geschenk aus Griechenland. Ein schickes Blouson, gefertigt aus einem warmen, grauen Fleece-Material. Sie ist, wie sich zeigt, aus einer Decke des UN-Flüchtlingshilfswerks genäht, und auf dem Etikett steht: «Remember Idomeni!»
Idomeni ist das Grenzdorf zwischen Griechenland und Mazedonien, wo im vergangenen Jahr Zehntausende Flüchtlinge in Regen, Kälte und Hitze ausharrten, nachdem die sogenannte Balkan-Route geschlossen worden war. Meine Freundin war als Flüchtlingshelferin dort gewesen. In der Jackentasche findet sie einen Zettel mit einem Namen: Hassan. Als ich einige Wochen später nach Thessaloniki reise, bittet sie mich, nachzuforschen, wer Hassan ist und wie es ihm geht.
Es gibt ein Sprichwort in Griechenland: «Wenn du kein Zuhause mehr hast, gibt es immer noch Thessaloniki.» Die nordgriechische Metropole war zu allen Zeiten ein Mekka für Flüchtlinge. In regengrauen Strassen finde ich nach einigem Nachfragen das Zentrum von «Ecopolis», einer Graswurzelinitiative, die Flüchtlingen hilft, in Griechenland Fuss zu fassen. Im vierten Stock des Hauses ist ein Café, geführt von meist jungen Männern aus Syrien. Schnell komme ich mit anderen Gästen ins Gespräch. Die meisten sprechen zumindest ein wenig Englisch. «Wir geben uns gar keine Mühe, griechisch zu lernen, wir wollen so schnell wie möglich weiter», sagt eine Frau mittleren Alters mit Kopftuch, die sich als Fatma vorstellt. Die anderen nicken. Schnell gibt es eine Diskussion über die Vorteile von Kanada, Schweden und der Schweiz – wenn man nur erst einmal weg könnte.
«Das Schlimmste ist das Warten», sagt Fatma. «Es ist, als ob das Leben stillsteht.» Vergangenen März hat die EU von den vereinbarten 160 000 erst 13 546 Flüchtlinge auf andere Länder verteilt. Allein in Griechenland warten etwa 70 000 in Camps und Containersiedlungen darauf, dass ihr Leben irgendwie, irgendwann weitergeht.
Ein Stockwerk höher, zwischen Büros von Umwelt- und Hilfsinitiativen, liegt die Naomi-Nähwerkstatt. Vor der Tür stapeln sich Hunderte grauer UNHCR-Decken. Auf Postern stellen meist dunkelhäutige Männer und Frauen verschiedene Modelle vor: graue Jacken in verschiedensten Formen und Grössen sowie bunte Schürzen. An einer Nähmaschine sitzt ein junger Mann mit einer Brille mit bunten Gläsern. Er strahlt mich an, und ich weiss: Das ist Hassan. Hassans Geschichte ist so traurig wie viele andere, die ich gehört habe, auf Lesbos, in Idomeni, in Berlin und anderswo. Doch sein Lächeln und seine Zuversicht sind ungebrochen. Er hat seine Familie, seine Fabrik, seine Heimat verloren, aber er wird neu beginnen, wieder einmal. Zweifel daran sind verboten.
Hassan, dreissig Jahre alt, Sohn eines palästinensischen Flüchtlings und einer Syrerin, war bis vor zweieinhalb Jahren ein bekannter Modedesigner und Fabrikinhaber in Damaskus. Seine Entwürfe waren in Syrien, im Libanon, Jordanien, Ägypten und Palästina gefragt. Vor zwanzig Jahren, als sein Vater erkrankte, verliess Hassan als ältester Sohn die Schule und arbeitete in der Schneiderei seines Onkels mit. Nach fünf Jahren richtet er sich im Elternhaus eine eigene Schneiderei ein, und mit zwanzig Jahren besitzt er eine Firma mit fünfzig Maschinen. Schliesslich besucht er eine Schule für Modedesigne, delegiert die Firmenleitung an einen Freund und spezialisiert sich auf Entwürfe. Als seine Fabrik von Bomben zerstört wird, baut er eine neue auf, noch grösser, mit einhundert Maschinen. Jeden Tag produziert sie tausend Teile. Bis zum 4. Dezember 2014. «An diesem Tag habe ich alles verloren.»
Der Anruf kam um fünf Uhr nachmittags. Ein befreundeter Soldat sagte knapp: «Wenn du überleben willst, musst du Syrien in 24 Stunden verlassen.» – «Warum?» – «Weil ich den Befehl habe, dich zu verhaften.» Was war geschehen? Hassans Fabrik war wie andere auch täglich von Beamten kontrolliert und schikaniert worden – Alltag einer Diktatur. Für alle Stoffe, die er kaufte, für alle Produkte, die er herstellte, musste er horrende Schutzzölle zahlen. «Mein ganzer Verdienst wanderte in die Taschen von Beamten. Irgendwann wollte ich nicht mehr und weigerte mich.» Doch die Geldeintreiber sitzen am längeren Hebel, wie er feststellen muss. Sie melden der Polizei, Hassan unterstütze den Dschihad. Dass er dort einen Freund hat, rettet ihm das Leben. Viele Tausende landen mit dieser Beschuldigung in Foltergefängnissen.
Hassen muss handeln, sofort. Er kündigt seinen Angestellten und packt das Nötigste zusammen. Da die Bank bereits geschlossen hat, kann er lediglich einstecken, was er an Bargeld im Büro und zu Hause hat. Seine Frau hat gerade vor einer Woche ihr erstes Kind geboren, Zena, eine Tochter; sie ist geschwächt, doch besteht darauf, mitzukommen. Um Mitternacht nehmen sie einen Bus in Richtung Türkei. An der Grenze lässt die Polizei sie warten: Als Palästinenser steht ihm kein Visum zu. Es ist Dezember und sehr kalt. Seine Frau bekommt Blutungen, das Baby schreit, sie bitten und betteln und geben ihr letztes Geld als Schmiergeld – und gelangen schliesslich in die Türkei.
Sie beschliessen, sich nach Europa durchzuschlagen und buchen eine Überfahrt mit Schleppern für sich und seine Eltern, auf die sie warten. Und warten. Denn der Vater – immer noch schwerkrank – wird als Palästinenser an der türkischen Grenze aufgehalten. Hassan trifft einen schweren Entschluss: Er wartet auf den Vater, während seine Mutter, seine Frau und seine Tochter auf die griechische Insel Chios übersetzen und später nach München weiterreisen, wo sie inzwischen leben. Hassan aber bekommt einen Anruf: Sein Vater ist an der Grenze gestorben.
Hassan wartet monatelang auf einen neuen Platz in einem Schlauchboot, diesmal in Bodrum. «Das Boot war voll, Männer, Frauen, Kinder. In der Mitte der Überfahrt stieg der Fahrer um und liess uns allein. Niemand von uns wusste, wie man ein Boot steuerte, aber ich tat es. Die türkische Polizei verfolgte uns, forderte uns auf, zurückzukehren, aber ich fuhr einfach weiter, und schliesslich kamen wir auf die griechische Seite. Eine Organisation empfing uns, und wir waren in Europa.»
Das war im Februar 2016. Er hört, dass Mazedonien die Grenze schliessen will, eilt nach Idomeni, aber zu spät. Es gibt kein Durchkommen mehr. Die Polizei bringt ihn mit vielen anderen in ein Flüchtlingslager in der Nähe von Thessaloniki, wo er als Frewilliger für Naomi arbeitet.
Hassans Pläne sind klar: Er will nach München, wo seine Familie lebt, und eine neue Fabrik aufbauen. Seine Frau hat sich inzwischen von ihm entfremdet, will nicht, dass er kommt. Doch auch das kann ihn nicht aufhalten. «Ich sehne mich nach meiner Tochter. Und ich will zumindest versuchen, eine Fabrik aufzubauen. Nächste Woche habe ich das Interview mit den Behörden, dann kann es nur noch wenige Monate dauern. Und wenn es nicht gelingt, werde ich zurückkommen und Griechenland zu meiner Heimat machen. Mein Traum ist es, weiter Mode zu entwerfen.»
Am Ende habe ich mir ebenfalls eine Idomeni-Jacke gekauft. Bis jetzt ist noch kein Tag vergangen, an dem ich sie nicht getragen habe. Sie ist wunderbar warm – aber vor allem lässt sie mich die Heimatsuche so vieler Millionen Menschen auf der Erde nicht vergessen. Mögen wir diesen Planeten wieder zur Heimat machen.
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